Noch mehr als 100 Verhandlungstage hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart gegen neun Mitglieder der „Patriotischen Union“ (Reuß-Gruppe) angesetzt – bis zum 30. Januar 2027.
Ob es dabei bleibt, weiß niemand. Der „Mammutfall, der die Justiz an ihre Belastungsgrenze bringt“, wird „wahrscheinlich noch Jahre dauern“, schreibt Der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe (28/2025).

Jürgen Dahlkamp und Maria-Luisa Kotsev haben zusammen mit dem Fotografen Nico Kurth den Verhandlungstag Nr. 68 am 21. Mai in Stuttgart-Stammheim besucht:
Von 83 Zuschauerstühlen bleiben an diesem Tag 80 leer. Ohne Spiegel-Reporter wären es 83.
Was sie dort von 9 Uhr bis 17.30 Uhr erleben, sind
… Szenen eines Prozesses, der so groß ist, weil der Staat mit allem, was er hat, seine Werte verteidigt. Recht und Ordnung, Freiheit und Demokratie.
Aber andererseits auch so klein, so lächerlich und manchmal auch so zum Lachen wie die Figuren und ihre Welt, die darin auftauchen. Der Staat tut es, weil er es tun muss. Selbst wenn es noch Jahre dauert, Hunderttausende kostet, Breaking News nicht mehr zu erwarten sind.
Selbst wenn dieser Prozess nur noch als Pflichtaufgabe gesehen wird – und in der Öffentlichkeit kaum noch.
26 Frauen und Männer der Reuß-Gruppe stehen derzeit vor Gericht, neun in Stuttgart, neun in Frankfurt am Main, acht in München. Sämtlichen Angeklagten wird zur Last gelegt, „sich als Mitglieder an einer terroristischen Vereinigung beteiligt zu haben sowie ein hochverräterisches Unternehmen vorbereitet zu haben“, heißt es auf der Webseite des OLG.
Die neun Angeklagten in den Zellen von Stammheim werden zum „militärischen Arm“ der „Patriotischen Union“ gerechnet, schreibt der Spiegel:
In Frankfurt stehen dagegen eher die politischen Köpfe vor Gericht, diejenigen, die sich wohl schon im Kabinett einer neuen Regierung sahen, Reuß etwa oder die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann.
Und in München geht es vor allem gegen eine Riege Esoteriker, die anscheinend glaubten, das Putschregime sei auf die Kraft des Übersinnlichen angewiesen, Hellsehen zum Beispiel.
Der lange Text der beiden Reporter ergeht sich in detaillierten Beschreibungen der „Banalität des Blöden“ – etwa einer „zähen, ermüdenden“ Zeugenbefragung, bei der man oft nicht weiß, „wohin sie führen soll, und manchmal führt sie auch nirgendwohin“. Jede Aussage, die ein Angeklagter schon bei der Polizei gemacht hat, muss in Deutschland noch einmal in ganzer Länge in der Hauptverhandlung ausgebreitet werden.
Oder des stundenlangen Anhörens von mitgeschnittenen Telefonaten aus der Telekommunikationsüberwachung, auch wenn es darin
… nur an ein oder zwei Stellen um eine mögliche Verschwörung geht.
Ansonsten ums Wetter, Donald Trump und darüber, wie die Sterne dafür stehen, dass ein Besuch beim Zahnarzt schmerzlos wird und ob ein anderer Termin nicht doch besser wäre.
Wer da gerade mit wem spricht, wann und wo, ist für Zuschauer nicht zu enträtseln.
Die Prozessbeteiligten („fünf Richter, zwei Ersatzrichter, eine Protokollantin, zwei Bundesanwälte, bis zu 21 Verteidiger und bis zu 35 Justiz-Wachtmeister“) haben nach 67 Verhandlungstagen ihren eigenen Umgang mit dem Großverfahren gefunden, zum Beispiel:
Um 11.40 Uhr ist das Kinn von Rechtsanwalt R. auf seine Brust gesackt, der Atem geht regelmäßig, die Augen sind geschlossen. Um 11.46 Uhr zuckt er leicht hoch, sackt wieder zurück, um 12.01 Uhr sind die Augen offen, um 12.02 Uhr wieder zu, 12.07 Uhr auf, 12.08 Uhr zu, 12.10 Uhr auf, 12.15 Uhr zu.
Man könnte den Artikel von Dahlkamp/Kotsev leicht missverstehen, als amüsiertes Kopfschütteln über die vermeintliche „Rollator-Gang“ um Heinrich XIII. Prinz Reuß und das juristische Aufhebens darum.
Tatsächlich aber geht es um das,
… was die Putschisten nicht getan hätten. Sie selbst hätten mit ihren Gegnern kurzen Prozess gemacht, so hatten sie es in abgehörten Gesprächen zumindest immer wieder gesagt. An die Wand und Feuer frei.
Der Rechtsstaat setzt dem Irrsinn seine Nüchternheit entgegen und begegnet seinen Feinden mit den Mitteln, die ihn ausmachen: Er ermittelt Fakten. Sortiert sie. Filtert aus den Belegen Beweise heraus.
Verdichtet die Beweise zu einem begründeten Urteil, und weil eine Begründung Gründlichkeit verlangt, nimmt er sich Zeit dafür.
Viel Zeit. Möglicherweise noch 24 oder 36 Monate. Auch in Frankfurt zieht sich das Verfahren hin. Das Urteil in den drei Mammutprozessen bezeichnen Dahlkamp/Kotsev vorweggenommen bereits jetzt als „Statement einer wehrhaften Republik“.
Übertrieben? Nicht unbedingt:
Einerseits sitzt da also eine Truppe von Verlierern: zerbrochene Ehen, ruinierte Geschäfte, Schulden, Vorstrafen. Mit einem Faible für Fantasmen, Absurditäten und Allmachtsfantasien.
Andererseits sollte man sich nicht täuschen: Einiges spricht dafür, dass sie von ihrer Macht Gebrauch gemacht hätten, wenn sie gekonnt hätten. Für die mutmaßlichen Putschisten ging es um die Weltherrschaft. Alles oder nichts. Auf Leben und Tod. Dachten sie zumindest.
Und wenn man liest, was sie so schrieben, so daherredeten, eingeschlossen das Ausradieren aller Widerstände, aller Gegner, dann will man nicht erlebt haben, was passiert wäre, wenn sie tatsächlich die Chance dazu gehabt hätten.
Zum Weiterlesen:
- Dahlkamp, Jürgen/Kotsev, Maria-Luisa „Prozess gegen Reichsbürger: Die Banalität des Blöden“ spiegel (6. Juli 2025)
- Wnuck, Felix „Sie wollten die Bundesregierung stürzen: Ein Jahr Reichsbürger-Prozess in Stuttgart-Stammheim“ swr (29. April 2025)
- Streib, Daniel „Drei parallele Reichsbürger-Prozesse: Wie gefährlich ist die Reuß-Gruppe wirklich?“ BNN (18. Juni 2024)
- Bargel, Vicky „Was Sie zum Start des historischen Terrorverfahrens wissen müssen: Fakten, Hintergründe, Insiderwissen“ stern (29. April 2024)
- Ramelsberger, Annette/Warmbrunn, Benedikt „Der Staat gegen seine Feinde“ Süddeutsche (25. April 2024)
Titelfoto: Pixabay/AJEL
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