Am 8. November hatte das ZDF Magazin Royale eine Sendung zu den aktuellen und tieferen Verstrickungen zum Thema „Rituelle Gewalt“-„Mind Control“ in Deutschland senden wollen, dazu kam es aber nicht. Stattdessen sprach Böhmermann darüber, wie wichtig es ist, im Angesicht von Demagogie und Desinformation Rückgrat zu zeigen – und darüber, dass dieses Rückgrat beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer öfter fehlt. Der Podcast Geteiltes Leid, der sich ebenfalls mit der Verschwörungserzählung und ihren Folgen befasst, thematisierte bereits am 28. November den Wirbel um die geplante Böhmermann-Sendung. Seither hat eine am 12. Dezember veröffentlichte Spiegel-Recherche das Thema ebenfalls aufgegriffen und macht klar: Der bereits fertige Beitrag wurde von der ZDF-Programmdirektion kurzfristig gestoppt – mutmaßlich aus Angst vor Kritik, welche bereits im letzten Jahr eine Sendung zu dem Thema aus der ZDF-Mediathek verschwinden ließ.
Satanic Panic 2.0
Das „Rituelle Gewalt“-„Mind Control“-Narrativ (kurz RG-MC) gehört zu den hartnäckigsten Verschwörungsmythen überhaupt. Jahrzehnte nachdem die „Satanic Panic“ zuerst die USA und dann Europa erschüttert hat, sind Erzählungen von rituellem Missbrauch durch unspezifische, verschworene Gruppen in Deutschland erneut an der Tagesordnung. Besonders problematisch ist, dass sich der Glaube an diesen Verschwörungsmythos auch in einigen psychotherapeutischen Praxen festgesetzt hat, wo er das Leid von Patient:innen weiter verschlimmern und adäquate Hilfe verhindern kann. Die Betroffenen sind meist psychisch belastete Personen mit hohem Leidensdruck.
Therapeut:innen, die von diesem Narrativ überzeugt sind, wenden oft suggestive Methoden an und wecken bei ihrem Gegenüber den Glauben, rituell sexuell missbraucht worden zu sein – und die Erinnerungen verdrängt zu haben. Die Vorstellung von der vollständigen Verdrängung von Traumata widerspricht jedoch den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Gedächtnisforschung (S. 36). Wie kommt es zu dieser vermeintlichen Amnesie? Auch dafür haben die Anhänger:innen des RG-MC-Narrativs eine Erklärung. Sie behaupten, dass die Opfer im Rahmen des Missbrauchs gezielt in multiple Persönlichkeiten „gespalten“ worden seien, was es der in der Therapiesituation präsenten Persönlichkeit nahezu unmöglich mache, sich ohne Hilfe an die traumatischen Erfahrungen zu erinnern.
Das Ergebnis derartiger Therapien ist oft verheerend, obwohl die behandelnden Personen ihren Patient:innen vermutlich helfen wollen. Neben der Tatsache, dass das eigentliche Leiden nicht adäquat behandelt wird, wird das Vertrauen der Betroffenen in ihre eigene Wahrnehmung geschwächt. Häufig entwickeln die Patient:innen eine tief sitzende Paranoia und Ängste vor einem verdeckt operierenden „Täternetzwerk“, vor dem sie nirgends sicher sein können. Diese Angst führt meist zur Isolation von Freunden und Familie, da den Betroffenen suggeriert wird, niemandem mehr vertrauen zu können, was wiederum zu einer ungesunden Abhängigkeit der Betroffenen von ihren Therapeut:innen führen kann. Die professionelle Distanz, die für eine seriöse Therapie Voraussetzung ist, kann so kaum gewahrt werden (S. 58–59).
Ein hartnäckiges Narrativ
Das RG-MC-Narrativ aus der Welt zu schaffen, ist keine einfache Aufgabe. Die Erzählungen sind komplex und mit zahlreichen „Absicherungen“ versehen, die sie besonders resistent gegen Kritik machen. Während das Konstrukt in den USA seit 1980er Jahren, im Nachgang zur „Satanic Panic“-Welle, weitgehend entlarvt wurde – etwa durch den Film Regression (2015) mit Emma Watson – hält es sich im deutschsprachigen Raum hartnäckig.
Schon seit 2014 klären Skeptiker:innen wie Lydia Benecke und Bernd Harder in Vorträgen und Beiträgen über dieses Thema auf. Trotz zahlreicher Anfeindungen und systemischen Widerständen haben sie es geschafft, mehr Aufmerksamkeit für die Problematik zu schaffen.
Eine hilfreiche Einführung in den Komplex, die die Hintergründe fundiert darlegt, bietet eine Broschüre von Dr. Kai Funkschmidt unter der Redaktion von Bernd Harder, herausgegeben von der GWUP1. Auch der empfehlenswerte Podcast Geteiltes Leid von Olga Herschel und Sören Musyal leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung. In vier Folgen werden nicht nur die Einzelschicksale von Betroffenen und ihren Familien vorgestellt. Die Expert:innen – Herschel hat selbst in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet und Musyal recherchiert seit Jahren zu Radikalisierungsdynamiken – besprechen auch die Hürden, vor denen vor allem Journalisten bei der Aufklärungsarbeit stehen. Dass der Podcast zeitweise unter den Top 5 der deutschen Podcast-Charts gelistet war, macht Hoffnung, dass die Aufklärung mehr und mehr Menschen erreicht. Auch das SRF leistet mit der Reportage „Satanic Panic“ (Teil 1 und Teil 2) und einem Podcast zum Thema einen wichtigen Beitrag in der Schweiz.
Streit um die ZDF-Berichterstattung
Besondere Aufmerksamkeit erregte das Thema allerdings im September 2023, als eine Folge des reichweitenstarken ZDF Magazin Royale sich mit dem RG-MC-Narrativ beschäftigte. Die Sendung hat für so viel Aufruhr gesorgt, dass sie kurz nach der Ausstrahlung depubliziert wurde, aufgrund von Programmbeschwerden und Druck auf den Sender – unter anderem durch die von Böhmermann zurecht kritisierte Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Die Entscheidung, die Sendung zu entfernen, stieß auf heftige, berechtigte Kritik, unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). In einem Schreiben forderte DGPPN-Präsident Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg das ZDF auf, die gut recherchierte Folge wieder zugänglich zu machen – bislang ohne Erfolg. Seine Argumentation legte er außerdem in einem Interview mit dem Spiegel dar. Doch das Internet vergisst nicht, auch wenn das ZDF die Folge nach wie vor im Giftschrank behält.
Das Rechercheteam des ZDF Magazin Royal hat sich von diesem Rückschlag allerdings nicht beeindrucken lassen. Wie in Folge 3 von Geteiltes Leid (ab min 26:20) deutlich wird, wusste das Podcast-Team bereits davon, dass das Team des ZDF Magazin Royale an einer neuen Sendung arbeitet, die Anfang November 2024 erscheinen soll. Acht Tage vor der Aufzeichung des Podcasts gingen alle Beteiligten noch von einer planmäßigen Veröffentlichung der Folge aus.
“Doch dann – nichts”, wie Herschel es treffend formuliert.
In einer aktuellen Recherche im Spiegel gehen die Autor:innen Christopher Piltz, der den Streit um die RG-MC-Folgen des ZDF Magazin Royale schon lange verfolgt, und Vicky Bargel auf die Gründe ein: ZDF-Programmdirektorin Nadine Bilke habe die Ausstrahlung untersagt. Es seien allerdings es keine inhaltlichen Schwächen gewesen, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Der Kurs, den das ZDF hier einschlägt, sei insbesondere deswegen ungewöhnlich, da fertig produzierte Sendungen aus Effizienzgründen normalerweise ausgestrahlt werden. Die neue Folge hätte, so der Spiegel, noch tiefere Einblicke in die Strukturen des RG-MC-Narrativs geliefert und aufgezeigt, wie diese Theorie sogar in wissenschaftlichen Kontexten Verbreitung findet. Laut Piltz und Bargel lag der Fokus der Folge auf einem Netzwerk aus Psychotherapeut:innen und selbsternannten Expert:innen, die versuchen, dem Mythos »Mind-Control« auf Fachveranstaltungen und in wissenschaftlichen Publikationen einen seriöseren Anstrich zu geben. Eine Arbeitsgruppe des Nationalen Rats, die in diesem Zusammenhang auffällig wurde, sowie von einem Arzt, der trotz seiner fragwürdigen Methoden als Oberarzt in einer deutschen Klinik arbeitet, sollen hier eine Rolle gespielt haben.
Ein Thema, das nicht in der Schublade verschwinden darf
Zu den Hintergründen der Blockade durch das ZDF bleibt eine entscheidende Frage offen: Warum wird die öffentliche Aufarbeitung dieses aktuellen und wichtigen Themas behindert? Eine umfassende Aufklärung über das RG-MC-Narrativ ist nicht nur notwendig, um den Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Verbreitung dieser gefährlichen Erzählung weiter einzudämmen. Nur so kann verhindert werden, dass weitere Therapeut:innen den Menschen, denen sie eigentlich helfen wollen, Schaden zufügen, und nur so können weitere psychisch belastete Personen davor bewahrt werden, in diese Falle zu tappen und geschädigt zu werden.
Es bleibt zu hoffen, dass der mediale Druck steigt bis das ZDF seinem Programmauftrag nachkommt und die unterdrückten Sendungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – das Thema ist eindeutig zu wichtig, um in einer Schublade im Archiv zu verschwinden.
Quellen
- Bargel, Vicky und Christopher Piltz “ZDF-Programmdirektorin stoppte Böhmermann-Sendung vor Ausstrahlung” Der Spiegel (12. Dezember 2024)
- Funkschmidt, Kai „Broschüre “Rituelle Gewalt” und “Mind Control” via GWUP Heller, Piotr „ZDF stoppt Böhmermann-Sendung zu „Mind-Control““ FAZ (12. Dezember 2024)
- Piltz, Christopher „‘Böhmermann hat nichts falsch gemacht‘“ Der Spiegel (27. Januar 2024)
- „Böhmermann-Sendung zu „Mind-Control“ von ZDF-Direktion untersagt“ Der Standard (12. Dezember 2024)
Zum Weiterlesen:
- Fobbe, Sebastian „Rituelle Gewalt: Wer ist hier im Wahn?“ Übermedien (11. Dezember 2023)
- Mühlemann, Sonja „Satan-Verschwörerinnen therapieren in Bern weiter“ SRF (16. Februar 2023)
- Niehaus, Susanna und Andreas Krause „For they know (not) what they do: German studies on mind control, targeted personality splitting and induced amnesias. A reply to the critique by Schröder et al. (2023).“ Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (21. November 2023)
- Piltz, Christopher „Was ist nur mit dem ZDF-Fernsehrat los?“ Der Spiegel (13. Dezember 2023)
- von Blazekovic, Aurelie „Es müsste mit dem Teufel zugehen“ Süddeutsche Zeitung (10. Dezember 2024)
- Wikipedia Rituelle Gewalt
Zum Weiterhören und Weiterschauen:
- Hoaxilla #159 – ‘Satanistenmorde – HOAXILLA Crime’ (04. MAI 2014)
- DAI Heidelberg Lydia Benecke „Satanisch Panisch“ – Geist Heidelberg Halloween Special (1. November 2020)
- Ferngespräch Echtes Leiden, Falsche Fakten (23. Februar 2021):
- Podcast Geteiltes Leid
- SRF „Satanic Panic 1“ Satanische Verschwörungstheorie im Umlauf (14. Dezember 2021)
- SRF „Satanic Panic 2“ Gehirnwäsche in der Psychiatrie? (17. Mai 2022)
- WTF-Talk Satanic Panic (27. Februar 2023)
- WTF-Talk Satanic Panic Update (13. November 2023)
- WTF-Talk Satanic Panic Update 2 (15. Juli 2024)
- Ergänzung vom 15. Dezember 2024:
In der Broschüre wird allerdings explizit darauf hingewiesen: „Die vorliegende Publikation (…) ist nicht unbedingt als Positionierung der GWUP zu verstehen“. Dies überrascht nicht, wenn man den Inhalt des Videos „Cancel Culture in der GWUP? Im Gespräch mit Till Randolf Amelung“, das am 16.01.2024 auf dem YouTube-Kanal der „Skeptischen Gesellschaft“ veröffentlicht wurde, kennt. Darin äußert André Sebastiani, der derzeitige GWUP-Vorsitzende: „Es gibt zur Satanic Panic keine Meinung, über die der Verein einmal abgestimmt hätte. Es gibt einige prominente Mitglieder, die dazu arbeiten, die dazu auch publiziert haben und … gut, da gab es keinen großen Widerspruch, deshalb darf man annehmen, dass wahrscheinlich auch große Teile des Vereins das teilen. Ich wüsste jetzt aber nicht, dass man dazu keine abweichende oder auch differenziertere Meinung haben dürfte.“ In einem kritischen Artikel über dieses Video vom 20. Januar 2024 heißt es: „Wenn also André Sebastiani davon spricht, dass es keine Abstimmung über eine Meinung gebe, scheint er zu vergessen, dass es bei dieser Verschwörungstheorie nicht um Meinungen, sondern um Fakten geht. Wird hier also eine dissenting opinion zu einer bereits erfolgreich debunkten Verschwörungstheorie gefordert? Selbstverständlich kann man zu Verschwörungstheorien alternative Meinungen haben – genauso wie man an UFOs und Alienentführungen glauben kann. In so einem Fall stellt sich jedoch die Frage, was man dann in einer Einrichtung wie der GWUP verloren hat. Gegenüber erwiesenen Verschwörungstheorien, die von Experten bereits in jeglicher Hinsicht debunkt sind, kann es keinen Tellerrandblick mehr geben – das würde nicht nur sämtliche Aufklärungen, sondern auch die GWUP als Verein ad absurdum führen.“ Weitere Informationen gibt es beim WTF-Talk vom 15.07.2024 – „Satanic Panic Update 2„. ↩︎