Ein Film möchte „das Ausmaß organisierter ritueller Gewalt in Deutschland” aufzeigen. Hinter der Fassade der investigativen Dokumentation verbirgt sich eine altbekannte Verschwörungserzählung.
In einem ansonsten dunklen Raum stehen ein Tisch und zwei Stühle, erleuchtet von einem Spotlight. Auf den Stühlen sitzen eine besorgt dreinschauende Frau (Alina Levshin) und ein gesichtsloses Kind, das sich an ein Stofftier klammert. Aus dem Off beschreibt eine Stimme sexuelle Gewalt, die das Kind erfahren hat. Dazu wummert ein düsterer Ambient-Score.
Kurz darauf treffen wir verschiedene „Expert:innen”, deren Erklärungen uns durch den Film führen werden. Eine Montage mit Aussagen von Jurist:innen, Therapeut:innen und Menschen aus der Forschung etabliert das Thema „Organisierte Rituelle Gewalt” – und definiert es auch gleich so vage wie möglich: Organisierter Missbrauch sei ja automatisch immer irgendwo rituell, heißt es. Es gebe schließlich systematisierte Abläufe, die sich wiederholen, und die könne man doch als Rituale bezeichnen.
Auf diesen zwei Säulen baut der Dokumentarfilm „Blinder Fleck” von Liz Wieskerstrauch sein Narrativ auf: emotionalisierende Bilder und ein breites Potpourri an Berichten und Behauptungen, die im Einzelnen meist allzu konkrete Einlassungen vermeiden, im Zusammenspiel aber eine altbekannte Erzählung konstruieren.

Gewalt und Manipulation
Berichte von Betroffenen und Erklärungen von Aktivist:innen machen klar, worum es in dem Film eigentlich geht: eben nicht um ganz banalen Kindesmissbrauch (der in der Regel nicht in satanistischen Kulten stattfindet, sondern im vertrauten Umfeld von Familie und Institutionen), und ebensowenig um die allzu weltliche organisierte Anfertigung von Missbrauchsdarstellungen (aka „Kinderpornographie”), die durch Recherchen und auch durch Ermittlungen und Verurteilungen vielfach belegt ist.
Nach der zurückhaltenden Einleitung landet „Blinder Fleck” zügig bei Gruselgeschichten im Geiste der Satanic Panic der 1980er und -90er Jahre, die inzwischen unter der Bezeichnung Rituelle Gewalt – Mind Control (RG-MC) ein Makeover erfahren hat: Unscharf definierte, aber extrem mächtige Kulte sollen Kinder nicht nur wiederholt missbrauchen, sondern auch noch absichtlich dafür sorgen, dass diese die erfahrene Gewalt komplett wieder vergessen und/oder sich in dissoziative Persönlichkeiten aufspalten.
Diese Erzählungen widersprechen in mehrfacher Hinsicht dem Stand der psychologischen Forschung und konnten trotz zum Teil intensiver Nachforschung nie auch nur im Ansatz in der echten Welt belegt werden.
(In Kürze gibt es noch ein ausführliches Info-Paket zur RG-MC-Verschwörungserzählung hier im Skeptix-Blog. Einige weiterführende Links und Quellen findet ihr auch am Ende dieses Artikels)
Während die Interviews seriös distanziert daherkommen, streuen Wieskerstrauch und ihr Team (Kamera: Jürgen Heck, Schnitt: Klaus Flemming) gelegentlich assoziative Momente ein, die den Film visuell auflockern – und zugleich das Publikum in adäquater emotionaler Anspannung halten.
In die wiederkehrenden Eindrücke aus der Verhörszene vom Anfang mischen sich Bilder von einem Vorstadt-Idyll aus Baggersee, Spielplatz und Reihenhaus. Gefilmt in Zeitlupe, aus unbequem engen Kamera-Blickwinkeln, die Gesichter aussparen oder in der Unschärfe verschwinden lassen. Darunter immer wieder Unheil verkündende elektronische Sound-Flächen.
Gegen Ende schneidet Wieskerstrauch allen Ernstes eine gruselige Clownsfigur von der Kirmes dazwischen, die perfekt in einen Trash-Horrorfilm passen würde. Damit gibt „Blinder Fleck” endgültig den letzten Anschein ästhetischer Redlichkeit auf.

Schwammigkeit als Strategie
An einer Stelle erklärt eine engagierte Sozialarbeiterin, organisierter ritueller Missbrauch ziehe sich „durch alle Schichten” und komme in den verschiedensten Ausführungen daher: mal satanistisch geprägt, mal unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Kirche, gelegentlich im Umfeld der echten Kirche, manchmal auch ohne ideologischen Überbau.
Mit anderen Worten: So gut wie jede Form von Missbrauch kann in das RG-MC-Narrativ integriert werden und bei Bedarf als Feigenblatt dienen, falls andere Aspekte einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Insgesamt verzichten Liz Wieskerstrauch und ihr Ensemble weitgehend auf explizite Positionierungen und konkrete Definitionen.
Legitime Beschwerden über die Trägheit der Behörden bei der Verfolgung von Sexualdelikten und sorgfältig abwägende Überlegungen eines Kriminalbeamten stehen scheinbar gleichberechtigt neben unbelegten Berichten über als Techno-Parties getarnte satanistische Orgien, absichtsvolle Umprogrammierung von Opfern und von einem Pfarrer befohlene Kindstötung.
Eben diesen Erzählungen von Betroffenen gibt Wieskerstrauch besonders viel Raum. Im Gespräch mit der taz erklärt sie, sie stehe „empathisch auf der Seite der Betroffenen. Auch weil die Kritiker diese Frauen gerne lächerlich machen.”
Selbstverständlich verbietet es sich, die Betroffenen zu verhöhnen. Sie kämpfen mit realen psychischen Belastungen, mit echten Traumata, und viele von ihnen werden auch tatsächlich Gewalt oder Missbrauch erfahren haben. Letztlich sind sie im doppelten Sinne Opfer.
Denn bei ihrer Suche nach Hilfe sind sie an Menschen geraten, die ihnen einreden, sie seien einer übermächtigen Organisation hilflos ausgeliefert. Die existierende Traumata nicht helfen aufzuarbeiten, sondern sie um phantastische, ideologisch aufgeladene Schauergeschichten ergänzen. Die suggerieren, Betroffene könnten fast niemandem vertrauen – Behörden nicht und auch nicht nahestehenden Personen. Die sie in die Abhängigkeit von fragwürdigen Therapieangeboten führen, statt ihnen zu helfen, ihre Krisen und Herausforderungen selbstbestimmt zu überwinden.
Ironischerweise ist es nicht zuletzt Wieskerstrauchs Inszenierung, die – gewollt oder nicht – die Betroffenen der Lächerlichkeit preisgibt. Mit an Voyeurismus grenzender Faszination stellt sie Erinnerungen an groteske Gewalterfahrungen aus. Einmal lässt sie eine junge Frau das Wechseln zwischen „gespaltenen” Persönlichkeits-Instanzen wie eine Zirkusnummer vorführen – illustriert durch einen buchstäblichen Splitscreen auf der Bildebene, damit es auch wirklich alle kapieren.
Prädikat: Irreführend
„Blinder Fleck” wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat Besonders Wertvoll ausgezeichnet. Die Jury kritisiert in ihrer Begründung zwar einzelne Aspekte der bisweilen grobschlächtigen Inszenierung, lobt aber die „große Bandbreite der Interviewpartner*innen”, die „formale Strenge” und Wieskerstrauchs „akribische” Recherche. Der Film, so heißt es, führe „in sich schlüssig durch das Thema”. Das wackelige Fundament, auf dem die Grundannahmen des Films stehen, wird ebenso wenig erwähnt wie die verschwörungserzählerischen Elemente.
Die FBW hat auf eine Anfrage von Skeptix zum Zustandekommen der Bewertung bisher nicht reagiert. Laut den offiziellen Bewertungskriterien berücksichtigt die Jury bei der Beurteilung eines Film-Stoffs „Geschichte, Originalität, Bedeutung, zeitkritischen Gehalt, gesellschaftliche Relevanz” und bei Kinder- und Jugendfilmen die „altersgerechte Vermittlung”.
Sachliche Richtigkeit und Faktengehalt kommen in der Aufzählung nicht vor.
Sollte die FBW tatsächlich grundsätzlich keine Prüfung des Wahrheitsgehalts eines Films vornehmen, wäre dies – besonders bei Dokumentarfilmen – eine grandiose Verfehlung, die an Irreführung der Öffentlichkeit grenzt. Die meisten Leute werden selbstverständlich davon ausgehen, dass ein von einer Fachjury als besonders wertvoll ausgezeichneter Film nicht im Wesentlichen aus Unwahrheiten und bestenfalls hochgradig spekulativen Behauptungen besteht.
Bei der Diskussion nach der Aufführung in Berlin wird die Frage gestellt, wie die Filmemacherin dem Vorwurf der Nähe zur Verschwörungsmythologie begegne. Wieskerstrauch und die ebenfalls anwesende Opferanwältin Ellen Engel sagen, sie wollten ja nicht eine bestimmte Erzählung propagieren, sondern lediglich „den Diskurs schüren”.
Kritik-Immunisierung durch die Erklärung, man stelle doch nur Fragen – woher kennen wir das noch gleich?
Zum Weiterlesen und -hören:
Bedenkliche Auswirkungen der „Rituelle Gewalt Mind-Control“-Theorie (Sekten Info NRW)
Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt (Der Spiegel, hinter Paywall)
Ausführliche Podcast-Reportage „Geteiltes Leid‟ (RTL/Undone)
„Gibt es organisierten rituellen Kindesmissbrauch?“ The Inquisitive Mind
Die Verschwörungsideologie vom satanistisch-rituellen Missbrauch EI-Tagungsband 2023
Der Fall Josephine R. und der „blinde Fleck“ der Rituelle-Gewalt-Verschwörungstheorie skeptix
Unter Verschluss – Wie das ZDF Aufklärung zum Thema „Mind Control“ verhindert skeptix
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