Mythen der Physiotherapie: Wenn die Milchflasche schwerer ist als das Übungsgewicht

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Auch der SWR bricht jetzt eine Lanze für „Krafttraining Ü 50“ und erklärt, „warum es so wichtig ist“.

Der Physiotherapeut Lutz Homann (Augsburg) versucht seit langem, Grundübungen wie Kniebeugenvarianten, Kreuzhebenvarianten oder Drückvarianten in die Therapie zu integrieren, wie er im Podcast Gesundheit und Wissenschaft erzählte:

Da bin ich auch nicht der Einzige in Deutschland, der das macht, aber es sind leider noch nicht viele. In der Ausbildung wird es nicht gelehrt, es gibt einige wenige Fortbildungen, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Im Sport- oder Leistungssportbereich sieht es nochmal anders aus, da wird mehr gemacht – im normalen physiotherapeutischen Betrieb, mit den „normalen“ Patienten, leider noch sehr wenig.

https://physiotherapeuten.de/artikel/mut-zur-wissenschaft/

Vor einem halben Jahr veröffentlichte Homann in der pt – Zeitschrift für Physiotherapeuten einen „Angriff auf die Mythen der Physiotherapie“. Sein Hauptanliegen:

Oft ist die Intensität vieler Behandlungen zu gering und entspricht oft genug nicht alltäglichen, beruflichen oder sportlichen Anforderungen.

Homanns Forderung nach „Mut zur Wissenschaft“ beinhaltet zunächst einige Präliminarien, wie etwa

  • Eine objektive, selbstreflexive Beurteilung des eigenen physiotherapeutischen Handelns ist schier unmöglich:

Der Satz: „Ich habe gute Erfahrungen mit der Methode X gemacht“ ist sinnlos. Er ignoriert, dass wegen der langen Liste kognitiver Verzerrungen die möglichen Gründe für einen scheinbaren Behandlungserfolg nicht erkannt werden, zum Beispiel

– Placebo- und/oder Kontexteffekte

– Regression zur Mitte

– natürlicher Krankheitsverlauf

– soziale Erwünschtheit (Der Patient gibt ein positives Feedback, weil er den Therapeuten nicht enttäuscht sehen will.)

  • Die Liste überbewerteter und teilweise widerlegter beziehungsweise nicht bestätigter Methoden ist ebenfalls lang und umfasst beispielhaft

Osteopathie

– den Faszien-Hype

Fußreflexzonentherapie

Craniosacraltherapie

DornBreuss

Schröpfen

Kinesio-Taping

  • Die kritische Analyse von Studien erfordert Kenntnisse über Studiendesign, Methodik, statistische Verfahren et cetera, die in der Ausbildung nicht erlangt werden. Ein paar Kriterien zur Beurteilung von Studien lassen sich aber auch von Laien erfassen:

Gab es eine Kontrollgruppe, sind Werte für die klinische Relevanz angegeben oder nur die für die statistische Signifikanz und andere?

Nur das Abstract zu lesen reicht sicherlich nicht aus, man kann aber zum Beispiel schauen, ob sich vollmundige Behauptungen in der Überschrift oder dem Abstract in der Conclusio wiederfinden: Oft genug schränken die Autoren dann ihre ursprünglichen Statements ein.

Quellen für Studien und Reviews gibt es genug: PEDRO, Cochrane Reviews et cetera.

https://physiotherapeuten.de/artikel/mut-zur-wissenschaft/

Am Ende kommt Homann auf sein Hauptanliegen zurück:

Ich erlebe immer wieder, dass das Beharren auf veralteten oder widerlegten Konzepten und Methoden einhergeht mit dem Ignorieren von gut belegten Methoden und Prinzipien. Und in meinen Augen ist gerade das Ignorieren von SAID (specific adaptation to imposed demands) fatal.

Wir erleben alle in unserem Alltag, bei der Arbeit oder beim Sport Belastungen, auf die eine Therapie, Rehabilitation oder Training eigentlich vorbereiten sollte. Wenn ich will, dass mein Patient schneller geht (was ökonomischer und sicherer ist als langsames Gehen), muss ich mit ihm schnelles Gehen üben.

Wenn ich will, dass er in der Bewegung nicht stürzt, muss ich ihn während der Bewegung „stören“ (Perturbation), beim Balancetraining auf der Stelle wird er nur darin besser. Die Widerstände bei Übungen sollten dem Alltag bzw. dem Sport angepasst sein – besser noch darüber hinausgehend.

Wenn die Einkaufstasche oder die Milchflasche schwerer als das Übungsgewicht ist, ist die Übung ein Detraining. Meine geriatrischen Patienten schleppen ihre Rollatoren oder Trolleys die Treppen hoch, bei Zugbewegungen mit dem gelben Widerstandsband würden sie sich davon erholen.

  • Sein Appell an die Kolleginnen und Kollegen:

Mut zur Wissenschaft, kritische Einstellung zu Hypes und vor allem: You can’t go wrong getting strong.

Zum Weiterlesen:

Titelfoto: Pixabay/u_24u5lcc1

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