Monster des Grauens und der Revolution: Frankenstein und die Illuminaten in Ingolstadt

(Lesedauer ca. 8 Minuten)

Knochensägen. Anatomische Zeichnungen. Augenprothesen, die lidlos ins Leere starren.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Trockenpräparate, die alles zeigen, was der menschliche Körper zu bieten hat: Ungewöhnliche Frakturen, Organe, Fehlbildungen.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Und nicht zuletzt die medizinische Fachliteratur des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel

Chirurgie, In welcher alles, was zur Wund-Artzney gehöret, Nach der neuesten und besten Art, gründlich abgehandelt, und in vielen Kupffer-Tafeln die neu-erfundene und dienlichste Instrumente, Nebst den bequemen Handgriffen der Chirurgischen Operationen und bandagen deutlich vorgestellet werden

von 1743.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Hier, in der „Alten Anatomie“, hätte er sich fraglos zuhause gefühlt – Viktor Frankenstein, der sich mit 17 Jahren von Genf nach Ingolstadt aufmacht, um an der Universität Naturphilosophie, Chemie und Medizin zu studieren:

Auf meiner Reise nach Ingolstadt, die lang und anstrengend war, hatte ich genug Muße für diese und andere Gedanken. Endlich erblickten meine Augen den hohen weißen Kirchturm der Stadt. Ich stieg aus und wurde in ein einsames Gemach geführt, wo ich den Abend nach eigenem Belieben verbringen konnte.

Es ist durchaus kein Scherz, dass Stadtbesucher bei der Tourist Information am Rathausplatz nach Frankensteins Wohnhaus fragen, schreibt Ingolstadts Pressesprecher Michael Klarner in seinem Buch „Spuren eines Phantoms: Frankenstein in Ingolstadt“.

„Frankenstein“ spielt irgendwann im 18. Jahrhundert, eine genaue Jahreszahl hat die Autorin Mary Shelley weggelassen.

Ihnen kann leider nicht geholfen werden. Reale Alt-Ingolstädter Topografie sucht man in Mary Shelleys Werk vergebens. Gesehen hat die englische Schriftstellerin die Stadt an der Donau nie, auch nichts darüber gelesen, vermutet Klarner, „sonst wären wohl detailliertere Beschreibungen im Roman zu finden“.

Frankensteins mehrjähriger Aufenthalt in Ingolstadt oszilliert vage zwischen Hörsaal, „Grüften und Leichenkammern, Seziersaal und Schlachthof“ sowie einer „einsamen Kammer, oder eher Zelle, auf dem Dachboden des Hauses, von allen anderen Wohnungen durch einen Gang und eine Treppe getrennt“, wo die Werkstatt für sein „schmutziges Schöpfungswerk“ untergebracht ist.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

„Wenn er wirklich in Ingolstadt gelebt hätte“, wie es auf dieser Tafel heißt, dann wäre wohl die besagte „Alte Anatomie“ Viktor Frankensteins Lebensmittelpunkt gewesen, ein zweigeschossiger Barockbau, der 1723 bis 1736 für die medizinische Fakultät der Universität Ingolstadt erbaut wurde. Heute beherbergt dieses Gebäude im Südwesten der Altstadt das Deutsche Medizinhistorische Museum – wo dem berühmtesten (wenngleich fiktiven) Studenten der Lehranstalt ein ehrendes Andenken bewahrt wird:

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Aber warum spielt fast ein Drittel des „Frankenstein“-Romans von 1818 in Ingolstadt? Aus welchem Grund ist das Monster hier entstanden? Dieser Frage ging die Skeptix-Regionalgruppe Augsburg bei ihrer Exkursion an die Donau auf den Grund.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Hinweise dazu finden sich nicht nur im Museum, sondern auch unvermittelt im Straßenbild:

Foto: Alexander Luhm
https://stadtgeschichtslexikon.ingolstadt.de/wiki/Frankenstein

Ingolstadt war für Mary Shelley die Stadt der Illuminaten – das ist jedenfalls die „belastbarste Theorie“. Erfahren hatte die junge Autorin von dem Geheimbund aus der Verschwörungsliteratur des ehemaligen Jesuiten Abbé Augustin Barruel, der die Ingolstädter Mannen um Adam Weishaupt für die französische Revolution verantwortlich machte.

Michael Klarner erklärt dazu:

Barruel gibt den Illuminaten die Schuld an diesem epochalen gesellschaftlichen Beben. Das „geistige Kind“ der Illuminaten habe sich als „Monster der Revolution“ unkontrolliert und ohne Gegenwehr über Europa ausgebreitet. Ein „Monster“, geschaffen in Ingolstadt, durch die Ideale der hier 1776 gegründeten Illuminaten.

Während einer Reise entlang des Rheins 1814 haben Mary und ihr späterer Ehemann Percy Shelley sich ausführlich mit den Werken Barruels beschäftigt, sich gegenseitig daraus vorgelesen. Darüber berichtet die Schriftstellerin in ihren Tagebüchern.

Daher erscheint es durchaus möglich, dass sie die Ideen Barruels im Hinterkopf hatte, als sie 1816 ihren Roman zu Papier brachte.

https://www.dmm-ingolstadt.de/

Sichtbare Spuren haben die Illuminaten in Ingolstadt indes kaum hinterlassen. Auf ihren einstigen Versammlungssaal im Hinterhof der Theresienstraße 23 (zu Weishaupts Lebzeiten: Weinmarkt 289) …

Foto: Alexander Luhm

… weist heute nur noch eine Gedenktafel hin:

Foto: Alexander Luhm

Und die sogenannte Illuminatendecke in der Hohen Schule hat mit dem Illuminatenorden nichts zu tun. Mehr dazu gibt’s bei der historischen Kostümführung „Jesuiten, Illuminaten & die Sau von Ingolstadt“.

Zur Begegnung mit Frankensteins Monster kommt es dann nach Einbruch der Dunkelheit – bei der zweistündigen „Frankensteins Mystery Tour“. Die ist allerdings mehr unterhaltsam als informativ, und den Schlussgag (l.) kann man eigentlich nur verstehen, wenn man den „Otto“-Film von 1985 (r.) kennt:

https://www.ingolstadt-erleben.de/frankenstein/

Wie auch immer: Das „Frankenstein-Weekend“ in Ingolstadt findet dieses Jahr am 29. und 30. August statt:

https://www.youtube.com/watch?v=TmlavB-zUoc

Wir werden versuchen, das Monster aus seinem Versteck zu locken. Wird es sich uns endlich offenbaren? Oder bleibt es eine Legende, die in der Dunkelheit lauert?

Im November läuft dann eine neue „Frankenstein“-Verfilmung bei Netflix.

https://www.youtube.com/watch?v=x–N03NO130

Sieht ganz passabel aus. Aber nach unserem Ausflug wissen wir eines sicher: So groß und futuristisch eingerichtet war Frankensteins Dachkammer in Ingolstadt nicht.

Klarner:

Im Roman wird Viktors Wohnhaus nicht näher beschrieben. Man kann also davon ausgehen, dass es sich kaum von den anderen Häusern in der Stadt unterscheidet.

Aber immerhin:

Hier vertieft er sich in Bücher, vervollkommnet sein Wissen und verfällt dem unstillbaren Drang, menschliches Leben zu erschaffen. Rastlos beginnt er, die fixe Idee in die Realität umzusetzen.

In einer düsteren Novembernacht gelingt ihm das Unfassbare – er erweckt die Kreatur zum Leben. Doch der Wissenschaftler Frankenstein hat sich vor allem auf die technischen Aspekte konzentriert und dabei das Aussehen seiner Schöpfung außer Acht gelassen. Als er das Wesen von ausgeprägter Hässlichkeit erblickt, sinkt er „vor Mattigkeit und äußerster Schwäche“ zu Boden und verbringt die folgenden Stunden „ganz jämmerlich“:

Endlich dämmerte der Morgen trüb und nass auf und enthüllte meinen schlaflosen und schmerzenden Augen die Kirche von Ingolstadt, ihren weißen Turm und die Uhr, die die sechste Stunde anzeigte.

Viktor Frankenstein eilt „mit ungleichmäßigem Schritt in die Straßen hinaus“, wo er „dem Scheusal zu entgehen sucht“. Im Mai kehrt er schließlich in seine Vaterstadt Genf zurück und Ingolstadt entschwindet aus Shelleys Roman.

Foto: Alexander Luhm

Mehr als 200 Jahre später spuken der Gruseldoktor und seine Kreatur noch immer durch die durch die engen Gassen der Altstadt. Gut so, denn „wir brauchen Monster, weil sie uns aufzeigen, wo unsere Grenzen liegen und in der Zukunft liegen werden“, schreibt Hubert Filser in seinem lesenswerten Buch „Menschen brauchen Monster“:

Wer sich traut, die Monster zu betrachten, lernt etwas über sich selbst.

Zum Weiterlesen:

Titelfoto: Alexander Luhm

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

RSS Feed

Hier könnt ihr den Blog als Feed abonnieren.


Neuste Beiträge


Schlagwörter

Alternativmedizin Anthroposophie Astrologie Berlin Corona Desinformation Esoterik Fake News Frau Lea Geister Geschichte Homöopathie Kritisches Denken Kryptozoologie Königreich Deutschland Künstliche Intelligenz Lisa-Maria Kellermayr Lydia Benecke Manifestieren Mind Control Peter Fitzek Querdenker Recht Reichsbürger Rituelle Gewalt Rituelle Gewalt-Mind Control Ritueller Missbrauch Satanic Panic Satanismus Schamanin Science Cops Science Crimes Sebastian Bartoschek Sekten Skeptics in the Pub Skeptics in the Pub Berlin Skeptics in the Pub Köln Skeptizismus Social Media stammtisch Vampire Verschwörungstheorien Waldorfschule WTF-Talk Übersinnliches


Neuste Kommentare