Exorzismus heute: Wer stoppt die Dämonenaustreiber?

„Anneliese Michel scheint die Menschen nicht loszulassen.“

In der aktuellen Ausgabe von Zeit Verbrechen (30/24) zeichnet Lisa Brockmeyer die Leidensgeschichte der 23-jährigen Pädagogikstudentin nach, die am 1. Juli 1976 an den Folgen extremer Unterernährung starb. In den Monaten davor hatten zwei katholische Priester versucht, der jungen Frau „Dämonen“ auszutreiben. Tatsächlich litt Anneliese Michel an Epilepsie und einer psychogenen Psychose.

Nach 67 Exorzismen von September 1975 bis Ende Juni 1976 war die junge Frau „bis aufs Skelett abgemagert“ und wog bei 1,66 Meter Körpergröße nur noch 31 Kilogramm, schreibt Brockmeyer. Die Zeit-Redakteurin verweist auf ein erschreckend illustratives Werk des Künstlers Kurt von Bley:

„ein Vexierbild, das auf der einen Seite ein Porträt von Anneliese zeigt – lächend, gesund; auf der anderen Seite das geschundene Gesicht der Sterbenden.“

Einen besonderen Fokus legt Brockmeyer auf die Rolle der beiden Exorzisten (die, ebenso wie die Eltern, wegen fahrlässiger Tötung zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurden):

„Die Priester verhandeln nicht nur mit den Dämonen, sondern sie lenken das Gespräch in eine Richtung, die ihnen gut zupasskommt. Sie spüren, dass Anneliese ihnen nützlich sein kann, um der Welt zu zeigen, dass die Grundwerte der katholischen Kirche in Gefahr sind […]

Die Beschlüsse aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil sind den Modernisierungsgegnern Alt und Renz ein Dorn im Auge. Die Pfarrer machen Anneliese zu ihrem Sprachrohr. Einmal entlockt Pater Renz den Dämonen die Aussage, sie seien für die Handkommunion. Für den Traditionalisten ist das ein Beweis für die Arglist des Teufels.“

Auf diesen Aspekt weist auch die Kriminalpsychologin Lydia Benecke in der Podcast-Folge „Der Fall – Tödlicher Exorzismus“ hin, die im März 2024 veröffentlicht wurde.

https://www.youtube.com/watch?v=IXXRl3r_ho4

Ab Minute 10:40 erklärt sie:

„Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass Pater Arnold R. ihr immer wieder solche Aussagen förmlich in den Mund legt. Er befragt Anneliese extrem suggestiv und gibt ihr sogar Namen oder bestimmte Formulierungen vor.

Seine Absicht ist es, diese Bänder zu veröffentlichen und mithilfe dieser Bänder vermeintlich zu belegen, dass die Existenz des Teufels ja damit wirklich gesichert sei, was wiederum aus seiner Sicht ein Beweis für die Existenz Gottes wäre.“

Dieses Motiv der Selbstvergewisserung scheint mit ein Grund dafür zu sein, warum der Exorzismus immer noch „boomt“, wie verschiedene Medien berichten (zum Beispiel hier oder hier). Vor allem die Szene der freien Exorzisten „floriert“, schreibt die Berliner Morgenpost. Die Bedürfnisse der Hilfesuchenden und die Beweggründe der Exorzisten greifen dabei ineinander, führte die angehende Psychologin Jasmina Eifert bei der Jahresfachtagung 2024 der Initiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus (EI) aus:

Nach Informationen des Journalisten Marcus Wegner

„… haben wir derzeit zwei bis drei Teufelsaustreibungen pro Tag in Deutschland in der katholischen Kirche, die aber nicht offiziell sind. Aus Reihen der evangelikalen Szene sind es sechs bis sieben.“

Tatsächlich war Anneliese Michel mitnichten „der letzte offizielle Exorzismusfall Deutschlands“, wie der WDR zum 30. Jahrestag von Klingenberg verlautbarte.

2008 erklärte das Bistum Eichstätt, im Jahr 1997 einem Diözesanpriester im Ruhestand „unter strengen Auflagen“ die Erlaubnis erteilt zu haben, den Exorzismus zu sprechen. Diese sei ihm „bereits am 25. November 2005“ wieder entzogen worden. Angeblich „gab es keinen einzigen Fall in der Sache“, sagte ein Sprecher des Bistums. Doch noch 2007 soll dieser Pfarrer aus Kösching bei Ingolstadt einen unautorisierten Exorzismus gesprochen haben.

Auch das Erzbistum Paderborn räumte ein, dass zwischen dem Jahr 2000 und 2003 in drei Fällen eine Beauftragung zum Exorzismus erteilt worden sei. Bei den Betroffenen habe es sich um „seelisch höchstleidende Personen“ gehandelt, „bei denen selbst nach Meinung von Fachleuten nur noch der liebe Gott helfen kann“, so der Sprecher des Erzbistums in seltener Offenheit.

Seitdem aber sei „in keinem Fall“ mehr ein Exorzismus durchgeführt worden, hieß es 2018 in einem Medienbericht. Bei den Kontaktaufnahmen der vergangenen zehn Jahre seien die Anfragen zur Inanspruchnahme medizinischer oder psychotherapeutischer Hilfe ermutigt worden. Fragten Menschen beim Erzbistum Paderborn an, folge immer der gleiche Ablauf. Nach dem Erstkontakt suche ein Priester das Gespräch mit dem Anfragenden, um das Anliegen zu klären. Dabei werde auch eine seelsorgliche Begleitung angeboten.

„Insgesamt raten wir dazu, dass Menschen, die sich für besessen halten, qualifiziert seelsorgerisch begleitet werden und professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen“, schreibt dazu eine Gruppe von kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten in einer Handlungsempfehlung.

Das dürfte die gängige Praxis in allen 27 deutschen Bistümern sein.

https://www.youtube.com/watch?v=KLZ07pPcgxg

Allerdings gibt es in der katholischen Kirche in Deutschland eine Grauzone, in der etwa Gastpriester aus der Weltkirche ohne bischöfliche Erlaubnis „Dämonen“ austreiben. Das dürften jene „zwei bis drei Teufelsaustreibungen pro Tag in Deutschland in der katholischen Kirche“ sein, „die aber nicht offiziell sind“, von denen Marcus Wegner spricht.

„Prinzipiell“, sagt der Münchner Weltanschauungsbeauftragte Axel Seegers, sei der Exorzismus weltweit in der katholischen Kirche kein umstrittenes Thema. Ob in Italien oder Spanien, in Südamerika oder Asien:

„Überall gibt es ganz selbstverständlich Priester, die Exorzismus durchführen.“

In der Y-Kollektiv-Reportage „Heilung durch Glaube? So läuft ein Exorzismus ab“ vom Dezember 2024 sind zwei Geistliche aus Polen zu sehen. Sie besuchen das Grab von Anneliese Michel in Klingenberg und bekennen, dass sie hier seien, „um zu zeigen, dass es teuflische Besessenheit wirklich gibt“.

Die Reporterin Jana Gareis äußert sich befremdet:

„Anneliese Michel sollte heutzutage doch ein abschreckendes Beispiel für Exorzisten sein.“

Doch weit gefehlt.

„Auch ein selbsternannter deutscher Exorzist gibt Einblicke in seine fragwürdigen Methoden, bei denen er psychische Erkrankungen wie Depressionen als Dämonenbesessenheit deutet“,

heißt es in der Sendungsvorschau.

Gemeint ist damit ein freikirchlicher „Exorzist aus dem Internet“ (Spiegel-TV), der sich Nature23 nennt und in dem Beitrag vomY-Kollektiv einer fixierten jungen Frau namens Selena zu Leibe rückt. Während der Prozedur erleidet sie einen akuten Asthmaanfall. Gareis erkennt darin eine Situation, die schnell „lebensgefährlich“ werden kann.

https://www.youtube.com/watch?v=-TeeP3F8NlA

Nature23 selbst gibt in einem Reaction-Video eine eigenwillige Erklärung für den Vorfall ab:

„Der Dämon hat eine gewisse Pressatmung mit Absicht durchgeführt, damit dieser Asthmaanfall ausgelöst wird. Selena war zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend, sondern dieses Wesen. Wenn der Dämon aktiv wird in einem Menschen, hat er die Neigung, den Körper zu verletzen, zu schädigen, ihn sogar umzubringen, und diese Absichten hat der Dämon auch, nicht immer, aber auch bei einem Exorzismus.

Der Dämon versuchte die betroffene Person Selena umzubringen, über einen Weg, der erlaubt ist vom Schöpfer, denn theoretisch kann ja ein Dämon dafür sorgen, dass du einen Herzstillstand erleidest, theoretisch. Er darf es aber nicht, weil er sich an die Gesetze des Himmels halten muss. Deshalb sucht er die Wege, die möglich wären, es zu tun, damit es dazu kommt.“

„Anneliese Michel scheint die Menschen nicht loszulassen“, resümiert Lisa Brockmeyer bei Zeit Verbrechen – nicht zuletzt deswegen, weil Klingenberg „ein Schock“ gewesen ist.

Aber was wirkt davon im Jahr 2025 noch nach? Wer im Internet „Exorzisten“ oder „Befreiungsdienstler“ sucht, stößt auf ein weites Feld von Einzelpersonen und pfingstlerisch-charismatisch-evangelikalen Freikirchen. Statt seelsorgerischer, theologischer und psychologischer Hilfe und Begleitung bieten sie „Dämonenaustreibungen“ nach obskuren Riten an.

Es sei

„… unbegreiflich, was Nature23 – vor allem jungen – Frauen antut. Warum stoppt ihn niemand?“

fragen sich die Hosts des True-Crime-Podcasts Mord auf Ex.

Und nicht nur sie. Muss es erst noch einen weiteren Todesfall in Deutschland im wild wuchernden magisch-mystizistischen Exorzisten-Milieu geben?

Quellen

Titelfoto: Das Grab von Anneliese Michel im fränkischen Klingenberg (©Offenbacherjung)


Kommentare

5 Antworten zu „Exorzismus heute: Wer stoppt die Dämonenaustreiber?“

  1. Prima, dass Bernd Harder seine wertvolle Informations- und Aufklärungsarbeit jetzt auf einem Blog bei Skeptix fortsetzt.
    Wieder ein fundierter Beitrag zu einem wichtigen Thema.

  2. Das ist eine echt gruselige Vorstellung, dass Menschen eigentlich ganz andere Hilfe brauchen, aber dann an solche Scharlatane geraten, die alles nur noch schlimmer machen.

    Das war früher, ohne besseres Wissen, schon schrecklich – ist aber in unserer heutigen Zeit umso schlimmer.

  3. Sebastian

    Den Worten von Udo Schuster schließe ich mich gerne an.

    Ein interessanter Artikel ist es auch geworden. Ein wenig frage ich mich, ob man bei der Hartnäckigkeit von solchen Menschen (und anderen) irgendwann einen gewissen Galgenhumor entwickeln muss, um nicht selbst zu verzweifeln.

    Viel Erfolg und noch mehr Spaß im neuen „Umfeld“!

  4. Und der Skandalbischof Walter Mixa hat auch krätig mitgemischt…

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