Stell dir vor, es ist virale-Internet-Challenge – und keiner macht mit

(Lesedauer ca. 5 Minuten)
von Peter Müller

Ende Februar ist es so weit, der SWR kann die ersten vermeintlichen Opfer eines gefährlichen TikTokTrends, der „ParacetamolChallenge“ , vermelden.

Die wichtigste Nachricht hier zuerst: Es geht den beiden Mädchen, die mit einer Paracetamol-Überdosis in die Notfallmedizin in den Kreiskliniken Reutlingen eingeliefert wurden, den Umständen entsprechend gut.

Den Angaben der Jugendlichen zufolge haben sie sich im Rahmen der „Paracetamol-Challenge“, einer sich von TikTok aus verbreitenden Mutprobe, eine gefährliche Dosis des Medikaments zugeführt. 

Das Bild zeigt zwei Ärzt:innen, die Kinder dringend davor warnen, an der so genannten "Paracetamol-Challenge" teilzunehmen

Ausschnitt aus dem Instagram-Video der Kreiskliniken Reutlingen

Die Chefärztin der Kinder- und Jugendmedizin in Reutlingen warnt zusammen mit einem namentlich nicht genannten Mediziner-Kollegen aus der Notfallmedizin in einem betont lockeren Video auf Instagram vor den Gefahren des Medikaments.

Wir möchten auf keinen Fall Zweifel daran säen, dass die beiden Heranwachsenden Opfer ihres Leichtsinns und der daraus resultierenden fehlerhaften Risikoeinschätzung wurden. Auch möchten wir auf keinen Fall die gute Absicht des Klinikums in Abrede stellen, junge Menschen zielgruppengerecht zu informieren und sie so davor zu schützen, als Patient:innen in der Notaufnahme zu landen.

Übersetzung aus dem Französischen: Die “Paracetamol Challence” (TikTok) fordert junge Menschen auf, exzessive Dosen von Paracetamol einzunehmen, um zu sehen, wer am längsten im Krankenhaus bleiben kann. Erhöhte Dosen von Paracetamol können zu schweren Leber- und Nierenschäden und in extremen Fällen zum Tod führen.
Quelle: https://x.com/be_poisoncentre/status/1880259975546847542 

Wir haben allerdings ernsthafte Zweifel daran, dass es eine viral gegangene Paracetamol-Challenge auf TikTok überhaupt gab.

Eine kurze Recherche in der News-Sparte von Google zeigt, wie präsent das Thema momentan in den Medien ist. Einer der ältesten Artikel, die dort zu finden sind, ist am 22. Januar 2025 in der ostbelgischen deutschsprachigen Tageszeitung Grenz-Echo veröffentlicht worden. Hier behauptet Patrick De Cock, Sprecher des „Belgischen Antigiftzentrums“ Folgendes:

Dieser Trend ist nicht neu. Wir haben ihn erstmals im August 2023 in den USA registriert. Doch inzwischen hat er sich weltweit verbreitet und ist auch bei uns angekommen.

Auch Basil Schöni, Redaktor beim Schweizer Online-Magazin Republik, benennt Patrick de Cock und das Centre Antipoisons Belge (auf Twitter @be_poisoncentre) als Quelle für das Gerücht eines weltweiten, viralen Internet-Trends. Er verweist allerdings in seinem hervorragenden Beitrag auf einen Post des Zentrums auf Elon Musks Kurznachrichtendienst „X“.

Schöni macht in seinem Beitrag das, was die Medien in der Schweiz – und mit leichter Verzögerung in Deutschland – bis jetzt kaum getan haben: Er hinterfragt Berichte, sucht verschiedene Plattformen nach einschlägigen Videos ab, befragt die Spitäler in der West- und Deutschschweiz nach Häufungen von Paracetamol-Vergiftungen bei Kindern und setzt sich mit verschiedenen Kantonspolizeien in Verbindung. Trotzdem wird diese Challenge für ihn nicht greifbar, er findet keine nennenswerten Belege.

Auch die Faktenchecker:innen von Mimikama kommen zu einem ähnlichen Schluss. Im Februar 2025 machen sie klar, dass es sich bei der Paracetamol-Challenge wohl eher um eine Urban Legend als eine reale Gefahr zu handeln scheint. Und es war nicht das erste Mal, dass sie Gerüchte rund um Paracetamol-Überdosen im Rahmen von Internet-Challenges ins Visier genommen haben. Schon 2015, ein Jahr bevor der Tiktok-Vorgänger Douyin überhaupt an den Start ging, wurde das vermeintlich virale Internetphänomen von Mimikama unter die Lupe genommen – mit dem gleichen Ergebnis.

Auch wenn die beiden jungen Menschen, über die der SWR berichtet, zum Glück mit dem Schrecken davon gekommen zu sein scheinen, bleibt ein fader Beigeschmack zurück. Könnte das unkritische Zitieren von Kolleg:innen zu einem Nachahmereffekt geführt haben –  ausgelöst von den Online-Dependancen der klassischen Medien, die vor vermeintlichen Gefahren der Online-Medien warnen wollten?

Selbst der KIKA berichtete in der Kindernachrichtensendung logo! – und zwar kritischer als manche Medien für vermeintlich Erwachsene:

Internetexpertinnen und -experten haben inzwischen nochmal überprüft, was es mit dieser Challenge genau auf sich hat. Sie haben dabei nur Videos gefunden, in denen Menschen über die Challenge sprechen, aber keine, in denen Kinder und Jugendliche tatsächlich Schmerzmittel nehmen. Es gibt also gerade keine Beweise, dass es diese Challenge wirklich gibt.

Man wünscht sich zum wiederholten Male, dass Medienschaffende den Fokus etwas mehr auf die Recherche legen würden, anstatt unkritisch und unreflektiert die Schlagzeile von den Kolleg:innen zu übernehmen.

Schöni beendet seinen Republik-Artikel übrigens mit folgenden Worten:

„Egal ob Sie gewöhnliche Bürgerin, Journalist, Politikerin oder Behördenmitarbeiter sind. Wenn Sie das nächste Mal von einem Social-Media-Phänomen lesen, das auf Sie unfassbar dumm oder gefährlich wirkt – halten Sie kurz inne, suchen Sie sich einen jungen Menschen, und befolgen Sie den Ratschlag von Pro Juventute im Umgang mit Social-Media-Challenges:

Regen Sie zum kritischen Denken an: Überlegen Sie gemeinsam mit dem Kind, was stimmt und was erfunden ist und wie man den Unterschied erkennt.

Vielleicht lernt der junge Mensch etwas von Ihnen.

Oder vielleicht ja auch Sie etwas von ihm.

Dem schließen wir uns vorbehaltlos an und geben die Empfehlung gerne an den SWR und die Kreiskliniken Reutlingen weiter.

Quellen:

Kommentare

4 Antworten zu „Stell dir vor, es ist virale-Internet-Challenge – und keiner macht mit“

  1. Sebastian

    In meinem Kopf bleibt ein großes Fragezeichen zurück. Wie sind die Jugendlichen überhaupt auf die Idee gekommen sich diese Überdosis zu verpassen, wenn es die Challenge eigentlich gar nicht gibt?

    Geltungsdrang aufgrund einer Urban Legend?

    Was mir aufgefallen ist, dass im SWR-Artikel immerhin darauf hingewiesen wird, dass nicht sicher ist, dass es die Challenge wirklich gibt.

    „Ob es sich dabei um eine „Challenge“ handelt, ist allerdings umstritten. Mehrere Recherchen – unter anderem des ZDF – haben ergeben: Einen Beweis für eine tatsächliche „Challenge“, bei der die Jugendlichen auch vor der Kamera Paracetamol in hohen Dosen einnehmen, gebe es nicht. Die angesprochenen Videos, die einen möglichen Missbrauch jedoch verharmlosen, gibt es und die Folgen von zu viel Paracetamol können fatal sein.“

    Aber die erwähnten Videos, wo die Medikamente eingenommen werden, scheint es ja nicht wirklich zu geben …

    Bin ja selbst nicht hellste Kerze auf der Torte, aber es überrascht mich immer wieder worauf die Menschen alle kommen. Sehr einfallsreich teilweise.

  2. Bernd Harder

    @Sebastian:

    „Wie sind die Jugendlichen überhaupt auf die Idee gekommen sich diese Überdosis zu verpassen, wenn es die Challenge eigentlich gar nicht gibt?“

    Ich weiß es nicht, ich könnte mir nur vorstellen, dass in einigen Medien der Eindruck erweckt wurde, die Challenge als solche würde existieren, und dass das ein paar Jugendliche auf die Idee brachte, „mitzumachen“.

  3. Erinnert mich irgendwie an den Fall vor ungefähr 10 Jahren, als ein paar Jugendliche ihre Freundin in einen Wald gelockt haben und auf sie eingestochen haben wegen einer Creepypasta. Das Mädchen hatte damals überlebt. Es gab danach ein Video von der Creepypasta-Community, die daraufhin ein Statement rausgebracht hatten, dass Creepypastas nicht echt sind und der Unterhaltung dienen.

    https://www.spiegel.de/panorama/justiz/slenderman-messerattacke-maedchen-drohen-65-jahre-haft-a-1023568.html

  4. Im vergangenen Jahr war es die Würge-Challenge, die rumgereicht wurde. Sprecher von TikTok sind dann immer schnell in den Postfächern von Journalisten, um zu versichern, dass ihre Daten keine „Challenge“ hergeben und dass sie entsprechende Hashtags gesperrt haben. Ich neige dazu, ihnen zu glauben.

    Für manche Journalisten dürften diese Challenges eher ein Schlachtruf „Huh, Klicks! Das hört sich so schön böse an“ sein. Oder „Ich hab’s Euch doch immer gesagt, Social Media ist doof“.

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