Ist die Internet-Sekte 764 ein Beweis für „rituelle Gewalt“?

(Lesedauer ca. 11 Minuten)

Der „White Tiger“, über den wir im März hier berichteten, ist in Hamburg festgenommen worden. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich ein 20-Jähriger, der als zentraler Akteur des extremistischen Online-Netzwerks „764“ gilt. Ihm wird unter anderem Mord, versuchter Mord und sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen. Konkret soll Shahriar J. einen 13-jährigen Jungen aus den USA so manipuliert und bedrängt haben, dass der sich im Januar 2022 vor laufender Kamera das Leben nahm.

https://www.youtube.com/watch?v=TrDr35d-Te0

Der NDR schreibt:

Die Online-Community tritt in Erscheinung mit satanistischen, sadistischen und pädokriminellen Inhalten. Zentrales Motiv sei die gezielte Suche nach psychisch labilen Kindern in Chatforen oder Online-Games, um sie systematisch zu manipulieren, teilten Polizei und Generalstaatsanwaltschaft am Mittwoch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit.

https://www.youtube.com/watch?v=c8-KZjeGUy0

Im März hatte das FBI vor „764“ gewarnt:

Sie nutzen Drohungen, Erpressung und Manipulation, um Opfer dazu zu zwingen, Live-Videos von Selbstverletzungen, Tierquälerei, sexuell expliziten Handlungen und/oder Suizid zu produzieren, zu teilen oder zu streamen.

Die Aufnahmen werden dann von den Mitgliedern des Netzwerks verbreitet, um die Opfer weiterhin zu erpressen und Kontrolle über sie auszuüben.

Von der amerikanischen Bundesbehörde kam auch der Hinweis auf den 20-jährigen deutsch-iranischen Staatsbürger. Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel sprach von „Abgründen, die nur schwer auszuhalten sind“. Die Taten zeigten ein unvorstellbares Maß an Verrohung und Unmenschlichkeit. Der Haftbefehl umfasst 123 Straftaten zwischen 2021 und 2023.

Vor allem ausländische Medien beschreiben „764“ mitunter als „Decentralised Satanist Terror Network“ und berichten von „ideologischen Verbindungen mit der satanischen und neonazistischen Terrororganisation“ Order of the Nine Angles. Daher ist es wenig verwunderlich, dass im Zusammenhang mit der „White Tiger“-Festnahme auch von „ritueller Gewalt“ die Rede ist (für die es bislang keinerlei Beweise gibt), zum Beispiel hier

https://www.youtube.com/watch?v=miqq0x0cSog

… oder hier:

https://kurzlinks.de/44xq

Die Vorwürfe gegen den 20-jährigen aus dem Hamburger Stadtteil Marienthal klingen – wie generell alles zu „764“ – „verstörend und kaum fassbar“, erklärt T-Online. Aber was hat dieser Fall mit Satanismus und „ritueller Gewalt“ zu tun?

Schon im März warnte der Theologe und Podcaster Fabian Maysenhölder (secta.fm) vor einer „Hysterie wie der sogenannten Satanic Panic in den 1980ern“. In einer Secta-Folge zu „764“ sagte Maysenhölder:

Ich glaube, man muss aufpassen, dass das in diesem Fall nicht auch passiert. Das ist nichts, was jetzt allgemein mit Satanismus zusammenhängt, sondern das ist ein Phänomen, das sehr spezifisch ist.

Wir sprachen zudem mit einem Szene-Kenner, der anonym bleiben möchte, über „764“ und den „Order of Nine Angles“:

Skeptix: In den vergangenen Tagen machte das „Sadisten-Netzwerk“ (n-tv) „764“ auch in Deutschland Schlagzeilen. Der Stern schreibt, „764“ sei „eng mit dem satanistischen Netzwerk Order of Nine Angles verwoben“. Das Gleiche liest man bei Wikipedia. Wie sehen Sie diese Verbindung zwischen „764“ und dem Satanismus?

Aus meiner persönlichen Perspektive ist diese Verbindung nur eine sehr oberflächliche.

Die Gruppe „764“ wurde 2021 von einem damals 15-Jährigen gegründet, und auch der zuletzt festgenommene Hamburger war zwischen seinem 16. und 19. Lebensjahr in diesem Netzwerk aktiv. Der angebliche Satanismus, der dort praktiziert werden soll, beschränkt sich auf oberflächlichste Symbolik, meines Erachtens, um neben Rechtsradikalismus und Nihilismus ein weiteres stylisches Label zu verwenden, ohne sich dessen Essenz bewusst zu sein.

Es wurden vornehmlich popkulturelle Symbole verwendet, die man auf jedem Heavy-Metal-Konzert zuhauf findet, ohne auch nur im Ansatz auf die dahinterstehende Historie oder Philosophie einzugehen.

Hätte auch nur einer der Täter von „764“ ein Grundlagenwerk echter satanischer Ansichten1 zur Hand gehabt, also jene Philosophie, welche Selbstverantwortung verordnet und Straftaten, insbesondere an Kindern, kategorisch ablehnt, hätte derjenige vielleicht gemerkt, dass er Symbole einer Subkultur verwendet, die er nicht im Ansatz verstanden hat.

Was über den „Order of Nine Angles“ (ONA) öffentlich bekannt ist, klingt allerdings ziemlich abgefahren. Was ist das für eine Gruppierung und wie steht der ONA zu „764“?

Der „Order of Nine Angles“ ist eine Gruppierung, die man szene-intern am ehesten als okkulte Luziferaner bezeichnen könnte. Im Gegensatz zu Satanismus geht der Luziferanismus von einer real existierenden Entität oder mehreren solcher „höheren Wesenheiten“ aus.

Das magische System, nach dem diese Gruppe agiert, beinhaltet so ziemlich alles, was die okkulte Welt hergibt: Germanische Runen, Alchemie, Gematria, Astrologie, Tarot, keltische Systeme und thelemisch beeinflusste Sexualmagie – was einvernehmliche Praktiken unter Erwachsenen meint, wie sie zum Beispiel im „Naos: A practical Guide to modern Magick“ beschrieben werden.

Der innere Kern des ONA besteht nur aus wenigen Mitgliedern, ursprünglich wurde der Orden in Großbritannien gegründet. Allerdings hat die Gruppe eine sehr offene Vorstellung davon, wer zu ihr gehört – im Grunde kann sich eigentlich jeder, der sich dem ONA zugehörig fühlt, pro forma als Mitglied betrachten, was auf ein universelles esoterisches Weltverständnis zurückzuführen ist.

Der ONA führt keinerlei Mitgliederlisten und weiß selber nicht, wer offen oder im stillen Kämmerlein mit ihm sympathisiert und sich als Teil der Gruppe betrachtet. Das führte etwa zu der kuriosen Situation, dass sich im Zeitraum zwischen 2008 und 2013 eine Gruppe von High-School-Girls unter Führung einer gewissen „Chloe Ortega“ im Internet als legitime ONA-Repräsentanz ausgab und mit ihren Pseudoaktivitäten sogar erfahrene Satanisten täuschen konnte, wie man hier nachlesen kann.

Originalliteratur des „Order of Nine Angles“

Nichtsdestotrotz ist bei Wikipedia von „rechtsterroristischen Verbindungen und Aktivitäten“ die Rede, andere Quellen werfen der Gruppierung „Akzelerationismus“ vor, also letztendlich das Bestreben, die kapitalistische und demokratisch verfasste Gesellschaft zusammenbrechen zu lassen.

Ich weiß, aber ich habe leider nicht die Möglichkeit, das zu validieren oder zu negieren. Ich kann nur von dem ausgehen, was im originalen Schrifttum des Ordens steht, und dort konnte ich darüber nichts finden.

Ich will den „Order of Nine Angles“ auch nicht unbedingt verteidigen, aber anmerken, dass einzelne Personen, wie etwa „Chloe Ortega“, alles Mögliche im Namen des ONA verbreiten können, ohne dass sich dagegen offiziell Widerspruch erheben würde. Zum anderen ist es durchaus möglich, dass einige dezentrale ONA-Mitglieder das so sehen. Der „Order of Nine Angles“ ist sicherlich radikaler als die „Church of Satan“ und ich will nicht verhehlen, dass Satanismus misantropisch werden kann, wenn er von Menschen mit übersteigertem Ego und radikalen Ansichten übertrieben wird.

Leider kann man als Satanist nicht verhindern, dass sich irgendein Spinner ein Pentagramm umhängt, bevor er eine Straftat begeht, so gerne wir das verhindern würden.

Kommen wir zurück zu „764“, was ja das eigentliche Thema ist.

Der Hauptunterschied dürfte sein, dass der ONA eine Angelegenheit zwischen mündigen Erwachsenen ist, während bei „764“ Teenager in Suizidforen labile andere Teenager rausgepickt und zur Unterhaltung viktimisiert haben. Bei aller Erbärmlichkeit der überwiegend jugendlichen Täter waren deren Taten grausam und verabscheuungswürdig.

Der „Order of Nine Angles“ hat sich vor zwei Jahren, nach einem Bericht der New York Post, von „764“ distanziert – wenn auch in einer Form, die auf Außenstehende zugegebenermaßen befremdlich wirken kann, weil man eher Antipathie gegen das Netzwerk herausliest und weniger Abscheu gegenüber den Taten. Im Kern erklärt der Autor, dass der ONA eine individualisierte esoterische Bewegung ohne formale Mitgliedschaften sei und „764“ aus Posern mit Black-Metal-Emblemen bestehe.

Man kann also nicht behaupten, dass „764“ ein Ableger oder eine Splittergruppe des ONA oder eine organisierte rituelle Bewegung wäre. Ich halte, wie schon gesagt, „764“ für ein Netzwerk von Einzeltätern, die sich das Satanismuslabel vor allem aus Stylegründen und zur künstlichen Mystifizierung gegeben haben. Mit echtem Satanismus hat das nichts zu tun.

Verschiedene Kommentatoren sehen jetzt trotzdem einen Beweis für „rituelle Gewalt“ erbracht.

Meines Erachtens zu Unrecht.

„764“ ist weder intergenerational seit Dekaden oder gar Jahrhunderten unterwegs, sie sind nach zwei Jahren aufgeflogen. Sie sind auch nicht nach strenger Arkandisziplin im Untergrund aktiv, sondern unpersönlich im Netz. Die Führungspersonen gehörten nicht zu einer ominösen Elite, sondern waren Außenseiter, die laut Medienberichten das Netzwerk als Reaktion auf Mobbingerfahrungen in der Schule gründeten. Zudem wurden die Opfer nicht mittels psychologischem Spezialwissen in mehrere Persönlichkeiten gespalten.

Die üblichen Verschwörungserzählungen des Satanic-Panic-Narrativs passen schlichtweg nicht, und hätten sich nicht einzelne Mitglieder auf ihren Profilbildern mit satanischen Symbolen behängt, deren Bedeutung sie nicht einmal verstehen, käme man auch gar nicht auf den Gedanken, dass „764“ ein Beleg für die Existenz „satanistisch-ritueller Gewalt“ sein könnte.

Dass nun einige Pressevertreter damit Schlagzeilen generieren und Anhänger von Verschwörungserzählungen dies nutzen, um ihr Narrativ zu pushen, ist erwartbar und entwürdigt die allzu realen Opfer dieses Netzwerks ein weiteres Mal.

Diesen Punkt arbeitet auch eine Gruppe von Psychologinnen und Psychologen im aktuellen Psychotherapeutenjournal (2/2025) heraus:

https://www.psychotherapeutenjournal.de/2025/2/ptj202502.003

Es geht nicht um die Frage, ob es extreme und/oder organisierte Formen sexualisierter Gewalt gibt oder ob Täter*innen existieren, die Sekten, Kulten oder ideologisch geprägten Gruppierungen zugehörig sind. Hierfür gibt es mehr als genug Belege.

Im Mittelpunkt der Kontroverse steht vielmehr die Frage, ob eine umfassende Programmierung mittels „Mind Control“ durch über viele Jahre geheim gebliebene – gesellschaftlich sehr gut eingebundene – Täter*innennetzwerke wahrscheinlich oder überhaupt möglich ist.

Konkret lautet die Frage, ob davon auszugehen ist, dass ein großes Netzwerk von Personen existiert, die bereit und in der Lage sind, durch planmäßig wiederholte Anwendung schwerer sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt eine gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit absichtsvoll zu evozieren und die entstehenden Persönlichkeitsanteile für unterschiedliche eigene Interessen „abzurichten“, langfristig für eigene Interessen „steuerbar“ zu machen und sich dabei zugleich zunutze machen können, dass die so behandelten Kinder und späteren Erwachsenen aufgrund der hervorgerufenen Persönlichkeitsspaltung keine Erinnerung an die Handlungen haben.

Klare Antwort: nein.

Zum Weiterlesen:

Titelfoto: Unsplash/Squidward Handsome

  1. Zum Beispiel die Veröffentlichungen der „Church of Satan“, die gewissermaßen den Ausgangspunkt der neo-satanistischen Literatur bilden, vornehmlich von Autoren wie LaVey, Gilmore und Barton. Davon inspiriert wurden unter anderem Oliver Fehn („Satans Handbuch“), Lars Peter Kronlob („Die Philosophie des Satanismus“), Burton H. Wolf („The Devils Avenger“), Joachim Schmidt („Satanismus – Mythos und Wirklichkeit“), Stanislaw Przybyszewski („Die Gnosis des Bösen“) und „Das satanische Leben“ (verschiedene Autoren).

Kommentare

2 Antworten zu „Ist die Internet-Sekte 764 ein Beweis für „rituelle Gewalt“?“

  1. Das Thema führt in das Zentrum der evidenzbasierten Medizin: Welchen Stellenwert haben „Erinnerungen“ von Patient:innen, welchen die klinischen Erfahrungen von Therapeut:innen und welchen Stellenwert haben Studien – und was folgt aus alldem für die therapeutische Praxis unter der medizinethischen Maxime „vor allem nicht schaden“.

    Das wird leider in manchen traumatherapeutischen Zirkeln auf dem Niveau gutmeinender Glaubensgruppen abgehandelt und scheinbar parteinehmend für Patientinnen, „denen sonst niemand glaubt“, gegen jede Kritik immunisiert.

  2. Bernd Harder

    @Joseph Kuhn:

    Dazu:

    Wünschenswert wäre künftig ein echter Fachaustausch zwischen Klinker*innen und Forensiker*innen, im Zuge dessen Forensiker*innen ein vertiefteres Verständnis therapeutischer Techniken vermittelt werden könnte, um Suggestionsrisiken unterschiedlicher traumafokussierter Techniken differenzierter einschätzen zu können und diesbezügliche Pauschalurteile zu vermeiden.

    https://www.researchgate.net/publication/390550846_Traumatherapie_und_ihre_Schattenseiten_Uber_unerwunschte_Nebenwirkungen_mussen_wir_reden_statt_sie_zu_verharmlosen

    https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-025-00886-3

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