Die Heiligsprechung von Carlo Acutis, Hostienwunder – und Antisemitismus

(Lesedauer ca. 9 Minuten)

Für Leo XIV. waren es heute seine ersten Heiligsprechungen. Neben dem eher unbekannten Italiener Pier Giorgio Frassati erhob der Papst auch einen echten katholischen Promi zu Ehren der Altäre: Carlo Acutis, dessen Leichnam seit 2019 in der Kirche Santa Maria Maggiore in Assisi bestaunt werden kann:

Foto: Wikipedia

Für die Aufbahrung in einem Hochgrab wurden sein Gesicht und seine Hände nachmodelliert,

schreibt katholisch.de:

Zunächst zeitweise, mittlerweile aber dauerhaft ist dieses Hochgrab verglast. Wer will, kann den Leichnam des Jungen also betrachten. Er liegt dort in Jeans, schwarzer Joggingjacke und Turnschuhen.

Ein moderner Heiliger zum Anfassen – und der erste Millennial, der kanonisiert wurde. Acutis starb 2006 im Alter von 15 Jahren an Leukämie. Verehrt wird er als „Influencer Gottes“ oder „Cyber-Apostel“, wegen des großen Interesses des Jungen „an allem, was mit dem Themenfeld Computer und Internet zu tun hat“:

Er bringt sich mit neun das Programmieren bei und setzt mit 10 Jahren eigene Webseiten auf, unter anderem für seine Pfarrei. So verbindet er seine Begeisterung für den Glauben mit seinem informatischen Können.

So begann er mit elf Jahren ein Verzeichnis von 146 eucharistischen Wundern anzulegen. Er versucht auch, möglichst viele der Orte dieser Wunder mit seinen Eltern zu besuchen. Die Webseite gibt es bis heute.

Sie wird auch auf Lamellen ausgedruckt und tourt als mobile Ausstellung durch Kirchen in verschiedenen Ländern, auch in Deutschland.

Foto: Wikipedia

Und genau diese Ausstellung, die unter anderem in Teltow, Nördlingen, Ingolstadt und Memmingen zu sehen war, ist umstritten:

Der Jugendliche hatte Informationen über sogenannte eucharistische Wunder gesammelt. Gemeint sind Erzählungen, in denen die Hostie blutet, zu Fleisch wird oder andere wundersame Dinge tut.

Mehr als 130 solcher Legenden sind auf einer Internetseite beschrieben, die Carlo erstellt haben soll. Heute lassen sich seine Schaubilder dort in 19 Sprachen herunterladen,

erklärt der Spiegel:

Das Problem daran:

Einige dieser Wundergeschichten sind unter Jüdinnen und Juden an ein traumatisches Erbe geknüpft. Im Jahr 1290 soll in Paris eine Hostie zu bluten begonnen haben, nachdem ein Jude sie malträtiert habe, und danach unversehrt davongeschwebt sein.

Der Vorwurf des Hostienfrevels war im späten Mittelalter vielerorts ein gängiger Anlass, um Juden zu enteignen, zu vertreiben oder zu töten.

https://www.miracolieucaristici.org/de/Liste/list.html

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, kritisierte im Juli, dass antijüdische Aspekte im Kontext der Ausstellung „Die Eucharistischen Wunder in der Welt“ bei der Entscheidung der Kirche nicht bedacht worden seien. Seine Vorbehalte bezögen sich nicht auf das eigentlich Wirken von Carlo Acutis, stellte Klein auf Nachfrage klar. „Ich kritisiere weder Carlo Acutis noch seine Heiligsprechung.“ Allerdings bemängele er weiterhin eine „mangelnde Kontextualisierung und Historisierung“ der dargestellten Hostienwunder im Heiligsprechungsverfahren:

Ich hätte mir nur gewünscht, dass die Kirche über den historischen Kontext seiner Wundersammlung aufklärt,

wird Klein im Spiegel zitiert.

Davor und danach thematisierten auch Medien wie die taz oder der österreichische Standard die „fromme Liste“ des Influencer Gottes:

Hinter den „Eucha­ristischen Wundern“ verbergen sich eine ganze Reihe von sogenannten Hostien­schändungslegenden.

Derartige Berichte stammen vor allem aus der Zeit zwi­schen dem 11. und dem 17. Jahrhundert, sie handeln von der missbräuch­lichen Verwendung oder gar Zerstörung des eucharistischen Brotes durch „Frev­ler“. Die konsekrierte Hostie „wehrte“ sich dagegen, indem sie zu bluten begann, sich der Zerstörung widersetzte oder sich gar physisch gegen die Untäter wandte.

Derartige Hostienfrevelanschuldigungen waren Teil der Hexenverfolgungen, des Kampfes gegen die Protestanten zur Reformationszeit oder gegen die muslimischen Mauren während der katholischen Reconquista in Spanien.

Acutis‘ Liste enthält einige „Wunder“ mit derartigem Hintergrund.

Das trifft zum Beispiel auf das „Eucharistische Wunder von Poznan“ zu, das von Acutis oder seinen Anhängern so beschrieben wird:

https://kurzlinks.de/uiuv

In der Stadt von Poznan wurden im Jahre 1399 drei geweihte Hostien geraubt, welche von den Gottesfrevlern dann mit spitzem Werkzeug bearbeitet wurden. Doch aus den Oblaten floss ein ununterbrechbarer Blutstrom und jeglicher folgende Versuch, die Hostien zu zerstören, war vergeblich.

So beschlossen die Missetäter, die heiligen Partikel in den Sumpf zu werfen, um nicht entdeckt zu werden, doch die Hostien erhoben sich leuchtend in die Luft.

Nur nach eifrigem Gebet konnten sie vom Bischof geborgen werden und noch heute werden sie in der Fronleichnamkirche von Poznan verehrt […]

Jeden Donnerstag wird in der Corpus Domini Kirche in Poznan eine Prozession mit dem Allerheiligsten Sakrament gehalten, um das Wunder zu ehren.

Tatsächlich finden sich donnerstags in der Fronleichnamskirche zu Poznan (Posen) Gläubige zu einer kleinen Prozession nach der Abendmesse ein, wie der Autor dieses Artikels sich am 28. August 2025 überzeugen konnte:

Das Hostienwunder selbst ist in einem Kirchenfenster illustriert:

Im Mittelgang der Kirche steht ein Altar mit einer Statuengruppe, „die Juden beim Ertränken der Hostien darstellt“, die sie zuvor „mit spitzen Werkzeugen zu schänden“ versucht hatten:

Das Motiv dahinter beschreibt der Journalist und Vatikanexperte Andreas Englisch:

Nach der Lehre der katholischen Kirche werden während der Wandlung die Oblate und der Wein in das Fleisch und Blut Jesu Christi verwandelt.

Die Idee von diesem Transsubstantiation genannten Vorgang setzte sich zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert durch. Allerdings fällt es vielen Menschen seit je schwer, daran zu glauben. Vor allem im 14. Jahrhundert verbreitete sich deshalb ein simpler Trick, um die Behauptung der Transsubstantiation zu untermauern.

Die Überlegung ging so: Wenn Jesus tatsächlich in der Hostie präsent ist, stellt diese ja einen sensationellen Schatz dar. Also würde es ein schlagkräftiger Beweis sein, wenn erklärte Feinde der Christen versuchen würden, um jeden Preis eine geweihte Hostie in ihren Besitz zu bringen.

Damit entstand das Gerücht, dass Juden großen Aufwand betrieben, um Hostien zu stehlen und dann zu malträtieren […]

Weder der Vatikan noch der Bischof von Assisi problematisierten im Fall von Carlo Acutis diesen antisemitischen Aspekt der eucharistischen Wunder.

Die Kościół Bożego Ciała (Fronleichnamskirche) befindet sich relativ abgelegen in einem Wohngebiet in Uni-Nähe und weist keine Anzeichen einer stark frequentierten Wallfahrtsstätte auf – auch ein Hinweis auf Acutis‘ Wunderausstellung ist nicht zu sehen:

Eine weitere Darstellung des Hostienfrevels sieht man einige Kilometer weiter in der Kościół Najświętszej Krwi Pana Jezusa (Kirche des Heiligsten Blutes des Herrn Jesus):

Allerdings ist festzuhalten, dass eine historische antijüdische Gedenktafel in der Fronleichnamskirche 2005 vom Erzbischof von Posen entfernt wurde. Die Webseite der Stadt Posen benennt den antisemitischen Charakter dieser lokalen Hostienlegende und weist auf den mörderischen Einfluss solcher Geschichten auf die Judenpogrome im 14. Jahrhundert hin.

Nichts davon findet sich indes auf der Poznan-Tafel in Acutis‘ Sammlung eucharistischer Wunder. Der Trierer Liturgiewissenschaftler Marco Benini weist darauf hin, dass Acutis um diese Zusammenhänger vermutlich überhaupt nicht wusste. Er habe lediglich in einer Liste alle Eucharistischen Wunder zusammengestellt, die er im Internet finden konnte.

Möglicherweise – aber darum geht es in erster Linie ja auch gar nicht.

Der Religionsjournalist Otto Friedrich kommentiert im Standard:

Man mag das alles nicht einem 15-jährigen wie Carlo Acutis vorwerfen.

Aber die­jenigen, die diesen Kult um seine Liste betreiben, müssten es besser wissen. 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 60 Jahre nachdem die katholische Kirche auf dem II. Vatikanum ihrer Judenfeindlichkeit abgeschworen hat, findet eine Heiligsprechung statt, ohne deren antijüdischen Hintergrund zu thema­tisieren, geschweige denn aufzuarbeiten.

Eine Schande.

Zum Weiterlesen:

Titelfoto: Bernd Harder

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