Süß oder tödlich – vergiftete Bonbons und versteckte Rasierklingen zu Halloween

(Lesedauer ca. 6 Minuten)

Um Halloween – dem Fest am Abend vor „All Hallows’ Eve“ also Allerheiligen – ranken sich wie um viele Feste so allerlei Legenden.

Eine, die immer wieder in verschiedenen Varianten und Härtegraden auftaucht, dreht sich um vergiftete Süßigkeiten für Kinder, die sie bei „Süßes oder Saures“-Rundgängen erbeuten und die ihnen angeblich ernsthaften Schaden zufügen.

Auch das Phänomen der „zwischen Süßigkeiten versteckten Rasierklingen“ taucht mit großer Regelmäßigkeit zu Halloween auf, wie etwa aktuell in Kiel:

Aktuelle „Schock-Nachrichten“ aus Kiel

Die Legenden um böswillig vergiftete Bonbons und mit Rasierklingen oder Nadeln versehene Süßigkeiten treten natürlich vor allem in den USA auf, in denen das „Trick or Treat“ unter Kindern weit verbreitet ist – aber auch in Europa waren und sind die Angst vor vergifteten Speisen und das Phänomen von so genannten “Heischebräuchen” verbreitet.

Das Verkleiden und Erbetteln von Speisen am Vorabend vor Allerheiligen stammte nämlich ursprünglich aus Irland, wanderte mit Irinnen und Iren in die USA aus und wurde spätestens ab den 90er Jahren in den deutschsprachigen Raum zurückimportiert.

Bereits Schneewittchen spürte die negativen Konsequenzen, als ihre böse Stiefmutter ihr als Bäuerin verkleidet (bei Grimm) bzw. als alte, gruselige Hexe (bei Disney) einen vergifteten Apfel andrehte, durch den sie auch prompt in einen todesähnlichen Zustand verfiel, aus dem sie nur durch einen nicht-consensuellen Kuss gerettet werden konnte.

Die „böse Stiefmutter“ mit vergiftetem Apfel bei Grimm (links) und bei Disney (rechts)

Im transatlantischen wie europäischen kulturellen Gedächtnis klebt also seit langer Zeit die Angst davor, dass man als Kind keine Süßigkeiten von Fremden akzeptieren sollte, wenn einem sein Leben lieb ist.

Haben die Ängste vor vergifteten Süßigkeiten einen wahren Kern? Schauen wir uns zwei Beispiele an, die zu ihrer Zeit für großes Medienecho sorgten:

Im Fall 1 war der 8 Jahre alte Timothy O’Bryan im Jahre 1974 mit seinem Vater, seiner Schwester und drei weiteren Kindern in Pasadena, Texas, unterwegs, um Süßigkeiten zu sammeln.

Timothy O’Bryan

Zu Hause aß er vor dem Schlafengehen noch eine der Zuckerstangen, die der Vater angeblich von jemandem in einem der Nachbarhäuser bekommen hatte und die er unter den Kindern verteilt hatte. Die Zuckerstange war mit Cyanid überzogen, und der Junge starb noch in der Nacht. Hinterher stellte sich heraus, dass Timothys Vater eine Lebensversicherung in Höhe von 40.000 Dollar auf seinen Sohn abgeschlossen und tatsächlich sein eigenes Kind vergiftet hatte. Der Vater wurde für den Mord und den versuchten Mord an vier weiteren Kindern verurteilt und hingerichtet.

Timothys Vater wurde für den Mord an seinem Sohn und für vierfachen versuchten Mord verurteilt

Bei Fall 2 starb im Jahr 1970 der 5-jährige Kevin Eugene Toston in Detroit angeblich an einer Überdosis Heroin, das ihm ebenfalls über Halloween-Süßigkeiten zugeführt worden sein sollte – die Ermittler fanden in der Tat Spuren von Heroin auf den Süßigkeiten im Haushalt. Die Medien griffen zu der Zeit den Fall massenweise auf, bis sich herausstellte, dass das Kind offenbar das Drogenversteck seines Onkels gefunden und das Heroin in Kapselform gegessen hatte. Sein Tod hatte also nichts mit Halloween zu tun, sondern seine Eltern hatten Heroin auf den Süßigkeiten verteilt, um vom Drogenbesitz des Onkels und von ihrer Vernachlässigung abzulenken.

Kevin Eugene Toston und zeitgenössischer Artikel

Solche „poisoned candy myths“ kursieren seit langem und dienen als eine Art Verhaltensmaßregel und Warnung, nach der Kinder sich vor Fremden und vor in Süßigkeiten versteckten Rasierklingen oder vergifteten Bonbons in Acht nehmen sollen („stranger danger“).

Es gibt wohl sehr, sehr vereinzelte reale Fälle von tatsächlich von Dritten „vergifteten Süßigkeiten“ und von mit Rasierklingen versetzten Schokoriegeln, bei denen jedoch praktisch nie jemand ernsthaft zu Schaden kam.

Offenbar werden solche Schauermärchen v.a. von Eltern und Familienmitgliedern in die Welt gesetzt, um einen Grund zu finden für den plötzlichen Tod eines Kindes oder gar um einen Kindsmord zu vertuschen.

Auch gab und gibt es wohl einzelne Kinder, die selbst gefährliche Objekte zwischen Süßigkeiten versteckten, um Aufmerksamkeit von anderen zu bekommen.

Insgesamt müssen wir wohl die Schauergeschichten um vergiftete Süßigkeiten und Rasierklingen in Äpfeln als einen meist stark aufgebauschten Mythos verstehen.

Er fällt unter das Phänomen der rumor panic, auf deutsch: Gerüchtepanik. Deren Kennzeichen ist u.a. dass sie phasenweise plötzlich auftaucht und dann auch wieder verschwindet, eine saisonale Panik sozusagen, deren Urspünge nur schwer fassbar sind.

Wirklich gefährlich ist für Kinder an Halloween vor allem das Draußen-im-Dunkeln-Herumlaufen, denn in dieser Nacht landen Kinder 4 Mal häufiger mit Verletzungen im Krankenhaus als an allen anderen Tagen im Jahr, da sie oft im Straßenverkehr übersehen werden.

Diesen Blog-Post gibt es auch als Film-Beitrag und Halloween-Special von Skeptix zu sehen

Quellen

Überblicksartikel über den Mythos “poisoned candy”:

Joni E. Johnston: “The Men Who Murdered Halloween. Myths and realities of poisoned candy“, https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-human-equation/201510/the-men-who-murdered-halloween 

Einschlägige Forschung aus den USA mit vielen Quellen und Links: 

Joel Best: “Halloween Sadism. The Evidence”, https://www.joelbest.net/halloween-sadism 

Weiterer Beitrag zum “Halloween Sadism” von Cassidy Baldwin und William Rushton: “Halloween Sadism: A Review Of Poisoned Halloween Candy”, 

https://www.alacep.org/halloween-sadism-a-review-of-poisoned-halloween-candy/

Lisa Lamm: “Trick or Treat: Wie Halloween nach Deutschland kam”, National Geographic,  https://nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2023/10/trick-or-treat-wie-halloween-nach-deutschland-kam/ 

Halloween als sinnvolle Beschäftigung mit dem Tod, aber kein keltischer Urspung von Halloween belegbar:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/halloween-sich-mit-dem-tod-beschaeftigen-100.html

Aaron Carroll: “The Myth About Strangers Poisoning Kids’ Halloween Candy”, https://theincidentaleconomist.com/wordpress/strangers-dont-poison-kids-halloween-candy/ 

Rasierklingen in Süßigkeiten:

https://www.kn-online.de/lokales/kiel/kiel-hassee-rasierklinge-in-halloween-suessigkeit-polizei-ermittelt-Y3FDQARQRJF6FP4OT5ZJU7T6UM.html

Hintergrundgeschichte vom Mord an Timothy O’Bryan:

https://criminalminds.fandom.com/wiki/Ronald_Clark_O%27Bryan

Mord an Kevin Eugene Toston:

New York Times-Artikel zum Tod von Kevin Eugene Toston: https://www.nytimes.com/1970/11/10/archives/boy-5-who-died-of-heroin-may-have-taken-a-capsule.html 

https://de.findagrave.com/memorial/119652669/kevin_eugene-toston

Erhöhte Unfallgefahr von Kindern an Halloween:

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/halloween-unfaelle-verkehr-allerheiligen-1.4191344

https://biermann-medizin.de/zahl-toedlicher-verkehrsunfaelle-bei-kindern-an-halloween-erhoeht

Abbildungen:

Kinder mit Jack’o’lantern: https://res.cloudinary.com/aenetworks/image/upload/c_fill,w_1920,h_1254,g_auto/dpr_auto/f_auto/q_auto:eco/v1/children-looking-into-glowing-jack-o-lantern?_a=BAVAZGID0 

Gustav Bartsch (*1821 – ♰1906): Illustration Schneewittchen und der vergiftete Apfel, https://grimmbilder.fandom.com/de/wiki/Schneewittchen_(Illustrationen)?file=Schneewittchen_Gustav_Bartsch.jpg 

Gif “This is no ordinary apple” Snow White and the Evil Queen, http://nor.com/de/view/disney-snow-white-evil-queen-apple-this-is-no-ordinary-apple-gif-15800827 

Timothy O’Bryan:

https://criminalminds.fandom.com/wiki/Ronald_Clark_O%27Bryan

https://s.hdnux.com/photos/01/52/65/57/28007400/6/rawImage.jpg

Kevin Eugene Toston:

https://images.findagrave.com/photos/2025/182/119652669_a2324496-ecef-4440-95b8-8b5574b226d4.jpeg

https://de.findagrave.com/memorial/119652669/kevin_eugene-toston#view-photo=321534668

Kommentare

Eine Antwort zu „Süß oder tödlich – vergiftete Bonbons und versteckte Rasierklingen zu Halloween“

  1. In diesem von dpa verbreiteten Artikel wird aktuell von einem Nagel in einem Schokoladenei berichtet. Ob das zutreffend ist, kann ich nicht beurteilen:

    https://bnn.de/nachrichten/deutschland-und-welt/halloween-bilanz-feuerwerk-und-nagelgespickte-schokolade

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