Mittlerweile wird die Rituelle Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) auch bei Wikipedia so benannt:
Weltweit vernetzte satanistische Gruppen nutzen wiederholt sexuellen, physischen und emotionalen Missbrauch im Rahmen planmäßig und zielgerichteter Zeremonien, um Kinder zu programmieren, sodass diese unter ihrer Bewusstseinskontrolle stünden.
In dem vierteiligen Podcast Geteiltes Leid folgten die renommierten Journalisten Olga Herschel und Sören Musyal Ende letzten Jahres dieser Erzählung.
Im Mittelpunkt der aufwändigen Produktion steht eine junge Frau namens Leonie. Ihr wurde im Alter von 19 Jahren eine dissoziative Identitätsstörung (DIS) diagnostiziert, die durch sexualisierte rituelle Gewalt ausgelöst worden sei, an die sie keine bewusste Erinnerung habe, schrieb die Süddeutsche Zeitung in einer Rezension: „Im Podcast wird nun Vereinen nachgespürt und auch Therapeutinnen und Anwältinnen, die mit Fällen wie dem von Leonie im Zusammenhang stehen.“
Und das taten Herschel/Musyal sehr gründlich.
Sie zeigten, „wie diese Verschwörungserzählung seit Jahrzehnten in Deutschland kursiert und noch immer ziemlich viele Anhänger:innen hat“. Und sie nahmen auch die fatale Rolle von „politischen Stellen“ unter die Lupe, die für Fragen des sexuellen Missbrauchs zuständig sind, erklärte Herschel in einem Interview:
Zum Beispiel das Bundesfamilienministerium oder die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK). In Teilen sitzen auch hier Menschen, die von der Existenz ritueller Gewalt in klandestinen Kulten überzeugt sind. Dementsprechend fließen auch Steuergelder in diesen Bereich.
Die so finanzierten Projekte sorgen dann wiederum dafür, dass dem Phänomen Bedeutung zugemessen wird. Und so legitimiert sich das Ganze selbst.
Sechs Wochen später wollten wir von Sören Musyal wissen: Was hat’s gebracht?
Skeptix: „Erfahrungsgemäß reagieren die Verfechter der Rituelle Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) recht aggressiv auf Kritik an ihrem Glauben. Wie war das nach der letzten Folge von Geteiltes Leid am 6. Dezember?“
Musyal: Die Rückmeldungen waren überwiegend positiv.
Wir haben viele Nachrichten von Menschen bekommen, die aufrichtig empört waren darüber, dass solche schädlichen Therapien so flächendeckend stattfinden und dass Menschen solches Leid erfahren müssen. Natürlich haben wir auch kritische Rückmeldungen bekommen. Davon waren aber nur wenige wirklich an einem inhaltlichen Austausch interessiert.
Zwei Dinge, die mir aufgefallen sind, möchte ich hervorheben: Erstens war auffällig, dass oft teils wörtlich Argumente zum Beispiel der UKASK übernommen wurden, etwa dass eine solche Berichterstattung Therapierenden Angst mache, sich Schwertraumatisierten anzunehmen. Das verdeutlicht ganz gut, wie viel Gehör diese Stellen finden.
Zweitens ging es – auch in privaten Rückmeldungen – viel um Glauben und Gefühle: Der Glaube an Verdrängung, an organisierte rituelle Gewalt oder an wiederauffindbare Traumata ist sehr stark. Unsere Argumente wurden da zwar nicht einfach weggewischt, aber eben aufgrund von Gefühlen angezweifelt.
Das verdeutlicht ganz gut, auf welch fruchtbaren Boden das Verschwörungsnarrativ fällt.
Skeptix: „Bereits in den Interviews mit RG-MC-gläubigen Therapeutinnen wurde vorauseilend der Verdacht gegenüber Ihnen und Ihrer Kollegin geäußert, dass das Endfazit von Geteiltes Leid wohl eher täterfreundlich ausfallen würde oder sogar die ganze Produktion von Täterkreisen beauftragt worden sei. Kamen da im Nachhinein noch mehr solche Anschuldigungen?“
Von unseren Protagonist:innen wie Leonies Eltern oder den Expert:innen haben wir positive Rückmeldungen bekommen. Das hat uns sehr gefreut.
Von denen, die in den Fall Leonie oder in die Verbreitung des Rituelle Gewalt-Mind Control-Narrativs involviert sind, haben wir nach der Veröffentlichung nichts gehört.
Skeptix: „Nach massiver Kritik an seinen fragwürdigen Studien zum Thema Rituelle Gewalt veröffentlichte der Psychiater Peer Briken vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf letztes Jahr eine Rechtfertigung, in der er sich für eine enge Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen und Fachdisziplinen sowie den respektvollen Austausch von Wissen, Erfahrungen und Perspektiven aussprach. In der Praxis ist es damit anscheinend nicht weit her, jedenfalls war von Herrn Briken und seinen Leuten nichts zu hören in den vier Folgen.
Dass niemand vom UKE-Forschungsteam mit uns sprechen wollte, hat uns überrascht. Normalerweise sprechen Forschende ja gerne über ihre Arbeit. Wenig überraschend gibt es bisher also keinen Dialog oder ähnliches.
Skeptix: „Ist das Thema damit auserzählt oder gäbe es genug Material für weitere Folgen?“
Ich glaube ja. Olga Herschel und ich würden auch sehr gerne weiter am Thema arbeiten. Das Problem bei einem Laden wie Undone ist: Wir brauchen Geld.
Aufwändig recherchierter und produzierter Journalismus, wie bei Geteiltes Leid, kostet. Aber wenn sich ein Produktionspartner für eine zweite Staffel findet, gerne. Wir haben da auf jeden Fall schon Ideen.
Skeptix: „Sie sprechen im Podcast und in verschiedenen Interviews die Rolle der Krankenkassen, Landespsychotherapeutenkammern und Ausbildungsinstitute bei diesem Thema an. Haben Sie den Eindruck, dass Geteiltes Leid bei diesen Institutionen etwas anstoßen konnte?“
Ich sehe da momentan keine Veränderungen. In unserer Recherche gab es auch wenig Bereitschaft, überhaupt darüber nachzudenken. Aber vielleicht kann man dann mit der oder dem neuen Gesundheitsminister:in das Gespräch suchen.
Neuere Veröffentlichungen belegen ja nochmal, dass nach wie vor nicht wenige Psychotherapeut:innen – und auch Patient:innen – davon ausgehen, man könne oder müsse in der Therapie verschüttete Erinnerungen ausgraben und deshalb suggestive Therapietechniken zum Einsatz bringen.
Hier gibt es also noch einige dicke Bretter zu bohren. Wir bleiben mit unserem Verein Skeptix natürlich dran an dem Thema – und freuen uns über Unterstützung.
Wie Olga Herschel in einem Interview sagte, geht die RG-MC-Verschwörungstheorie auf die „Satanic Panic“ der 1980er in den USA zurück:
Die „Satanic Panic“, eine Art Massenpanik in den 1980er Jahren in den USA, hat uns im Team schon länger beschäftigt. Psychotherapeut:innen haben dabei schon immer eine wichtige Rolle gespielt – als Multiplikator:innen einer Verschwörungserzählung.
Irgendwann haben wir dann den Blick nach Deutschland gewagt und festgestellt: Das ist keinesfalls ein Phänomen, das ausgestorben ist. Das gibt es auch hier – auch heute noch.
Dazu ist ein aktuelles Video von Fleureo’s Phantom Files erschienen.
Die vier Folgen von Geteiltes Leid finden sich zum Beispiel bei podcast.de oder RTL+ oder spotify.
Quellen:
- Stella, Marvel „Empfehlung: der Podcast Geteiltes Leid“ dissoziationen (12. Januar 2025)
- Stella, Marvel „Rezension zum Interview über rituelle Gewalt“ dissoziationen (16. Januar 2025)
- Riedner, Fabian „Scham spielt hier eine große Rolle“ quotenmeter (30. Dezember 2024
- „Verschwörung und Missbrauch: Khesrau Behroz im Interview zum neuen Undone-Podcast“ podcast.de (14. November 2024)
- Zimmermann, Felix „ZDF-Magazin-Royale-Sendung über Rituelle Gewalt weiter offline“ lto (26. September 2024)
- Scheiwe, Hannah „Angst vor Kritik? ZDF-Programmdirektion stoppt Böhmermann-Sendung“ rnd (13. Dezember 2025)
- Imhoff, Roland „Gibt es organisierten rituellen Kindesmissbrauch?“ The Inquisitive Mind (2/2024)
- Liebrand, Bianca „Zersplitterung nach Therapie – Bedenkliche Auswirkungen der Rituelle Gewalt Mind-Control- Theorie“ sekteninfo NRW (16. April 2020)
- Harder, Bernd „Die Verschwörungsideologie vom satanistisch-rituellen Missbrauch“ EI-Tagungsband 2023 (18. Dezember 2023)
- „Satanic Panic Suggested Reading“ by Autumn Sword
- Sillan, Nora „WTF-Talk: Satanic Panic Update 2“ dissoziationen (18. Juli 2024)
- Benecke, Lydia „WTF-Talk – Satanic Panic Update 2“ youtube (15. Juli 2024)
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