Das unperfekte Waldorf Kind

(Lesedauer ca. 8 Minuten)

oder warum ich gelernt habe so zu tun als könnte ich nicht lesen

von Sarah Grundner

Wer seine Kinder auf die Waldorfschule schickt, tut das aus unterschiedlichen Gründen. Manche mögen sich eine freiere Schulart wünschen, sind mit dem öffentlichen Schulsystem unzufrieden, möchten den Notendruck vermeiden oder möchten mehr praktische Fächer,mehr Handwerk, Musik oder Kreativität in der Schule umgesetzt sehen. Aber alle versprechen sich von der Waldorfschule vor allem eines: eine individuelle Förderung des eigenen Nachwuchses.

Wie frei die Waldorfschule tatsächlich ist, oder wie reformpädagogisch, ist ein ganz anderes Kapitel – aber heute nehme ich für euch die individuelle und vor allem“„ganzheitliche” Betrachtung von Kindern an der Waldorfschule auseinander.

Vorneweg: als staatlich genehmigte oder staatlich anerkannte Ersatzschulen in freier Trägerschaft (Deutschland) oder Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht (Österreich) können es sich die Waldorfschulen aussuchen, welche Kinder sie aufnehmen wollen. Und da gibt’s zwar die übliche Schuleinschreibung mit den üblichen Fragen, aber das ist bei weitem nicht alles. Hier wird auch nach Impfungen und Kinderkrankheiten, Babysittern und dem Umgang mit Medien gefragt.

So treffen die Schulen bereits eine Vorauswahl bei den Schüler:innen. Und das ist ganz im Sinne des Erfinders.

Der hatte nämlich ganz eigene Bedenken, wenn es um den Nachwuchs ging:

„Das sind diese Fälle, die immer häufiger vorkommen, dass Kinder geboren werden und Menschenformen da sind, die eigentlich in Bezug auf das höchste „Ich“ keine Menschen sind,sondern die ausgefüllt sind mit nicht der Menschenklasse angehörigen Wesenheiten. Seit den neunziger Jahren schon kommen sehr viele „ichlose“ Menschen vor, wo keine Reinkarnation vorliegt, sondern wo die Menschenform ausgefüllt wird von einer Art Naturdämon. Es gehen schon eine ganze Anzahl alte Leute herum, die eigentlich nicht Menschen sind, sondern naturgeistige Wesen und Menschen nur in bezug auf ihre Gestalt. Man kann nicht eine Dämonenschule errichten.“

Die Waldorfschulen bestehen darauf, dass sie offen für alle sind – in der Praxis sieht es dann doch meistens ganz anders aus: der Großteil der Schüler:innen kommt aus Haushalten, mit hohem Bildungsgrad. Der Großteil hat deutsch als Erstsprache. Die erste Klasse beginnt also mit sehr homogenen Schüler:innen. Und das ist auch so gewollt, denn in der Waldorfpädagogik wird die Entwicklung der Kinder in Jahrsiebte eingeteilt.

Und wer nicht passt, wird passend gemacht.

Mit dem Zahnwechsel um das 7. Lebensjahr herum hat sich für die Anthroposophen die „Grundform des individuellen physischen Leibes” ausgebildet.

Mit dem 14. Lebensjahr ist dann die Bildung des „eigenständigen Ätherleibes” erledigt und der „Astralleib wird als eigenständiges Wesensglied geboren”.

Laut Anthroposophie sind diese Lebensabschnitte vor allem an körperlichen Veränderungen erkennbar. Der Zahnwechsel, die Geschlechtsreife, der ausgewachsene Körper.

In den späteren Jahrsiebten geht es um die seelische und höhere geistige Entwicklung. Die sind aber für den Besuch der Schule nicht relevant und ich werde sie daher auslassen.

Die ersten drei Jahrsiebte sind dagegen enorm wichtig, und der ganze Schul- und Kindergartenalltag ist danach ausgerichtet.

Im ersten Jahrsiebt ist keinerlei Förderung von „verkopftem Lernen“ vorgesehen. Der Kindergarten ist ganz auf Sinnesschulung und rhythmische Bewegung ausgerichtet. Hier gibt’s keine Arbeitsblätter oder Ausmalbilder, kein Schreiben oder Lesen lernen, kein Zählen, keine Bilderbücher, keine Puzzles oder Duplo oder Magnetbausteine, kein UNO oder Brettspiele.

Alles ist auf den „physischen Leib” ausgerichtet.

Es gibt also Spielmaterial, das möglichst einfach gestaltet ist und zu unterschiedlichen Spielmöglichkeiten anregen soll: Körbe mit Kastanien, Puppen ohne Gesichter, Baumwoll- oder Seidentücher, gehäkelte Bänder. Viele Naturmaterialien. Freies Malen oder Zeichnen war auch nicht erwünscht.

Auch wenn es optisch eine klare Unterteilung in Mädchen und Buben gab (Mädchen trugen Röcke oder Kleider), war sie beim Spielzeug nicht gegeben. Buben und Mädchen spielten mit den gleichen Spielsachen.

Für mich als kleines Mädchen, das immer gerne gezeichnet, gemalt oder gelesen hat, war das einfach eine Abwechslung. Zuhause durfte ich schreiben und malen wie und wann ich Lust hatte, denn meine Eltern fanden das gut. Und so habe ich an den Waldorfkindergarten auch viele gute Erinnerungen. Heute ist mir vieles davon zutiefst unsympathisch, denn warum sollten Pädagog:innen Kinder vom Lesen lernen abhalten? Warum sollte man Kindern in ihren Interessen und ihrem Lerneifer nicht folgen? Warum wurde mir vermittelt, dass mein Interesse falsch war?

Ich weiß inzwischen, dass das viel mit den Jahrsiebten zu tun hat, denn Kinder vor dem Zahnwechsel (der eben am besten genau mit sieben kommen soll) sind für Anthroposophen nicht schulreif, und sollen auch nicht vorbereitet werden – denn die Schulreife stellt sich von selbst ein.

Deshalb war es in Waldorfkindergärten sehr lange üblich, Kinder ein Jahr zurückzustellen.

Dafür gab es den Begriff „Sonnenkinder“. Seit das nicht mehr ohne weiteres möglich ist, wird dieser Begriff zumindest in Österreich für Kinder im verpflichtenden letzten Kindergartenjahr verwendet.

Bei mir verlief das nicht ganz so, wie die Pädagog:innen sich das idealerweise vorgestellt hätten.

Also wurde vorsichtig an mir gearbeitet. Wenn ich zu wild spielte, wurde ich eingefangen und umarmt, bis ich mich beruhigt hatte. Wenn ich mir eines der wenigen Bücher vom Regal für die Pädagoginnen holte, um den anderen vorzulesen, wurde mir das Buch weggenommen.

Und wenn ich beim Malen meinen Namen schrieb, wurde ich mitleidig angeschaut. Es ist ein Blick, den jedes ehemalige Waldorfkind sehr gut kennt. Ein ganz milder Blick, der bedeutet: du hast etwas Falsches gemacht, du bist nicht richtig, wie du bist. Aber ich erkläre dir das jetzt nicht, denn du bist noch nicht so weit, dass du das verstehen kannst.

Mit genau diesem Blick wurde ich auch angesehen, wenn ich zu hoch auf einen Baum kletterte, das Essen nicht mochte, als mein Zahnwechsel “zu früh” einsetzte und als meine Linkshändigkeit klar wurde.

Im zweiten Jahrsiebt geht’s mit der Schule los. Jetzt ist eine Förderung der Gefühls- und Vorstellungswelt dran. Da werden Märchen vorgelesen, Handarbeiten geübt und Eurythmie gemacht. Ans Lesen und Schreiben tastet man sich langsam heran. Buchstaben werden groß und mit Wachsmalstiften gemalt. Die Gefühle der Buchstaben werden erklärt. Das „B“ fühlt sich „behäbig”, das „K” eher „königlich“.

Eigenständiges Denken wird nicht gefördert. Und so finden sich in meinen Schulheften aus dieser Zeit viele Bilder und von der Tafel abgemalter Text.

Zum „Y” findet sich in meinem Heft der Merksatz “YSOP HILFT HUSTEN HEILEN” in großen Wachsmalbuchstaben. Das war bereits Anfang der zweiten Klasse dran. Und dann erst folgten die Kleinbuchstaben.

Ich brachte also die ersten zwei Schuljahre damit zu, Buchstaben abzumalen, die ich längst kannte.

Im Kindergarten hatte ich ja schon erfahren, dass es schlecht war, dass ich schon lesen konnte – also zeigte ich das in der Schule nicht. Ich malte die seltsamen Merksätze einfach von der Tafel ab und schaute aus dem Fenster. Im zweiten Schuljahr begann ich, heimlich Bücher in die Schule mitzunehmen, um unter dem Tisch darin zu lesen.

Auch in der Pause saß ich oft auf dem Schulhof und las. Und wenn mich ein:e Lehrer:in erwischte, passierte immer das Gleiche: das Buch wurde mir weggenommen. Meistens mit der Begründung, das sei schlecht für meine Augen, oft auch mit einem „das ist noch nichts für dich”. Meine Mutter musste dann in die Schule kommen um die Bücher abzuholen – meistens waren es Bibliotheksbücher, deshalb bekamen wir sie zurück. Aber als ich mit 10 das „Tagebuch der Anne Frank“ dabei hatte, bekamen wir es nicht zurück. Das war meiner Lehrerin viel zu früh – und außerdem war das Buch nicht aus der Bibliothek.

Im dritten Jahrsiebt soll sich die Persönlichkeit bilden. Sehr viel habe ich davon nicht mitbekommen, da ich nach der 8. Klasse die Schule verlassen habe. Das Wichtigste in der 8. Klasse war allerdings das Klassenspiel.

Die Idee dahinter ist, daß die Jugendlichen ihre eigenen Schwerpunkte finden und so ihren Teil zum Gelingen beitragen. So gut wie alle Fächer wurden auf einmal völlig unwichtig, alles stand im Dienste dieses Theaterstücks.

Im Musikunterricht wurde die Musik ausgesucht und Mundharmonika geübt. In Kunst und Werken wurden Bühnenbild und Requisiten gestaltet und im Turnen übten wir Zirkusakrobatik.

Als fächerübergreifendes Projekt wäre das ja ganz nett, wenn es sich im Rahmen gehalten hätte. Ein zweiwöchiges Theaterprojekt? Großartig! Da könnten Schüler:innen ganz viel lernen, Spaß haben, Gemeinschaft erfahren.

Aber das Klassenspiel wird lange vorbereitet. Und statt Deutsch, Mathematik, Englisch, Geographie oder Geschichte probten wir das Klassenspiel. Ich glaube nicht, dass ich in meinem 8. Schuljahr sehr viel Unterricht hatte…

Meine Mama schickte mich auf die WS, weil sie sich davon „ganzheitliches Lernen“ versprochen hatte. Sie hatte mich nach der Scheidung als „kaputtes Kind“ gesehen (ihre Aussage, März 2022) und sollte in Kindergarten und Schule „ganzheitlich“ wahrgenommen und beschult werden. Ich finde diese Aussage an sich problematisch, denn Kinder sind nicht „kaputt“ und müssen auch nicht „repariert“ werden, aber hat das funktioniert? Vielleicht. Aus anthroposophischer Sicht war ich nach 11 Jahren sicher besser an die Waldorfschule angepasst als am Anfang. Aber das ist auch alles. Ich wusste, wie ich sein sollte. Angepasst aber mutig. Stark aber leise. Beseelt aber geerdet. Ich hatte halbwegs gelernt, wie ich mich innerhalb dieses Systems benehmen musste, um möglichst wenig aufzufallen.

Ganz gelungen ist mir das nie – und das Gefühl, als Person irgendwie falsch zu sein, hat mich lange nicht verlassen.

Der Wechsel an eine öffentliche Schule war für mich ein absoluter Befreiungsschlag. Meine Leistungen wurden bewertet, nicht mehr meine Persönlichkeit. Und auch, wenn der Umstieg schulisch nicht gut geklappt hat, war ich auf einmal so viel freier in meinen Möglichkeiten.

Quellen:

Fragebogen zur Entwicklung:

http://waldorfkindergartenkreuzberg.de/wp-content/uploads/2024/07/Anmeldeformular.pdf

https://www.waldorfschule-bruchhausen-vilsen.de/images/dokumente/Schulaufnahme/Fragenbogen_Entwicklung.pdf

Steiner Zitat:

Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919 bis 1924, GA 300c, S. 70

Zur Entwicklung der Wesensglieder:

https://anthrowiki.at/Siebenjahresperioden

Waldorfpädagogik in den Entwicklungsphasen:

https://www.anthroposophie-lebensnah.de/lebensthemen/waldorfpaedagogik/entwicklungsphasen-und-paedagogik/

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