Ja, die guten alten Zeiten – als man noch Filme machen konnte,
… in denen man sich einfach mal auf die Seite eines betroffenen Opfers gestellt hat und dem einfach mal Glauben geschenkt hat, und für diesen Glauben dann auch ganz viel Geschichten erfahren hat,
greint die Filmemacherin Liz Wieskerstrauch in einem aktuellen Youtube-Video:

So ist auch Wieskerstrauchs zweiteilige Doku „Höllenleben“ (NDR 2001/2003) entstanden, in der selbstdefinierte Betroffene von ritueller Gewalt „von schwarzen Messen in einer Kirche, Ritualen auf dem Friedhof, Folter und Kindstötungen“ erzählten.
„Höllenleben“-Protagonistin „Nicki“ starb 2023. Die Kriminalpsychologin Lydia Benecke interpretierte die Hintergründe ihres Falls etwas anders:
Es ist tragisch, dass ein Mensch, der berichtet, er sei unter schwerer Verwahrlosung, Vernachlässigung, sexuellem und körperlichem Missbrauch innerhalb einer desolaten, sozial schwachen Familie aufgewachsen, aufgrund seiner Lebensgeschichte deutlich weniger Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zuwendung bekommt, als wenn genau dieser Mensch im Laufe seiner Therapie beginnt, von generationenübergreifenden, Kinder wie Computer programmierenden Satanistensekten zu berichten.
Aber das war nun mal die interessante „Geschichte“.
Heute, mehr als 20 Jahre nach „Höllenleben“, kommt man mit solchen „Geschichten“ bei den großen TV-Sendern „nicht mehr durch“, klagt Wieskerstrauch – „aus Angst, Dinge zu erzählen, die nicht bewiesen sind“.
In einem weiteren Video räumt Wieskerstrauch sogar selbst ein, dass
… rituelle Gewalt zumindest in Deutschland noch in keinem einzigen juristischen Verfahren bewiesen ist.
Das hat sie allerdings nicht davon abgehalten, einen neuen Film zum Thema „rituelle Gewalt“ zu produzieren: „Blinder Fleck“, der „von zahlreichen Spendern finanziert“ wurde und am Mittwoch in einem Bremer Kino Premiere feiert.

Noch vor der Erstaufführung trifft Wieskerstrauch zwei bemerkenswerte Aussagen:
Erstens, selbst wenn „rituelle Gewalt“ nach Auffassung von Kritikern eine Verschwörungslegende ist:
Aber das Thema für mich ist ja, wie kommt es denn dahin? Warum wird das denn nicht bewiesen, wo es doch so viele Menschen gibt, die solche Erinnerungen haben? Das muss doch irgendwo herkommen.
Und dieser Diskussion wollte ich mich stellen, auch dieser Infagestellung, das werde eingeredet von Therapeuten, das sind so Dinge, welcher Therapeut hat so ein Interesse, was sollte dahinter stecken?
Nicht nur der Schweizer Psychiater und Gutachter Thomas Maier hätte diese Frage ausführlich beantworten können. Dass weder er noch irgendwelche anderen Kritiker:innen der Rituelle Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) in „Blinder Fleck“ zu Wort kommen, zeigt, dass die Filmemacherin sich weder einer Diskussion stellen wollte noch den aktuellen Wissensstand zu ihrem Thema überhaupt zu kennen scheint.
Zweitens: Unverdrossen behauptet Wieskerstrauch, Kindesmissbrauch „in rituellen Gewaltstrukturen“ werde „von der Gesellschaft abgekanzelt“, es werde „nicht hingeguckt“,
… man will es nicht wissen, man kann es nicht glauben, man will es absichtlich nicht glauben, man hält Experten wie Betroffene womöglich für Lügner, diskreditiert Therapeuten, die mit Betroffenen dieser Art arbeiten.
Hat Wieskerstrauch auch nur am Rande den Fall Josephine R. mitbekommen, bei dem es genau andersrum war? Höchstwahrscheinlich ja, aber wenn die Filmemacherin dem nachgegangen wäre, hätte sie ihre Geschichte vom angeblichen „Blinden Fleck“ in der Gesellschaft so nicht erzählen können.
In dem Youtube-Interview gibt Wieskerstrauch vor, ernsthaft an der Frage interessiert zu sein,
… wie es kommt, dass so viele Menschen solche Erinnerungen [an rituellen Missbrauch] mit sich herumtragen? Und wenn es nicht wahrhaftig wäre, diese Frage habe ich auch tausend Leuten gestellt, wenn das nicht wahr wäre, wo kämen denn dann diese Erinnerungen her?
Wir wissen nicht, wer diese tausend „Expert:innen“ gewesen sein sollen – jeder, der auch nur halbwegs mit der RG-MC-Verschwörungstheorie vertraut ist, hätte Wieskerstrauch das erklären können. Es sei denn, sie wollte die Antwort vielleicht gar nicht so genau wissen. Möglicherweise möchte die Filmemacherin lieber wieder eine „Geschichte“ erzählen, die so eindeutig und simplifizierend ist, wie Verschwörungsgläubige sich das wünschen.
Wäre Wieskerstrauch stattdessen auch auf den Fall Josephine R. eingegangen, hätte sie sich zwangsläufig für die Erkenntnis öffnen müssen, dass die Wahrheit komplizierter ist, als das Mantra
Man will das nicht hören, man will das nicht sehen, will es nicht glauben,
es vermuten lässt, welches der Pressetext für ihren Film „Blinder Fleck“ aufsagt. Und dass Fernsehsender mitunter richtig liegen, wenn sie sich weigern, „Dinge zu senden, die nicht bewiesen sind“.

Der Spiegel und die Braunschweiger Zeitung haben gemeinsam den Justizskandal um Josephine R. nachrecherchiert. Spiegel-Redakteur Christopher Piltz beginnt seinen Artikel so:
Sollte es einmal eine Netflix-Serie geben über die Geschichte
der Josephine R., dann könnte die erste Folge mit dieser Szene
beginnen …
Mit einiger Sicherheit wird es tatsächlich mal ein Fernsehstück über diesen Fall geben. Und wir sagen hier und heute voraus, dass dieses nicht von Liz Wieskerstrauch realisiert werden wird, die sich zwar „zahlreicher Dokumentarfilme“ rühmt, aber deren Glaube an „rituelle Gewalt“ auf Prämissen basiert, die zuletzt von Josephine R. ad absurdum geführt wurden:
Warum [haben] die Ermittlungen bislang in keinem einzigen Fall zu einer Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt? Glaubt man den zahlreichen Opfern nicht? Wird schlampig ermittelt? Warum werden Verfahren so schnell eingestellt?
Im Fall Josephine R. war alles ganz anders, schreibt der Spiegel:
Ihre Lügen führten zu intensiven Ermittlungen, mit elf Beschuldigten, rund 60 Verdächtigen und fast 90 Verfahren. Die Akten füllen einen ganzen Raum.

Zu guter Letzt blieb nichts davon übrig. Und die wirklichen Fragen, die sich heute stellen, formuliert Erik Westermann von der Braunschweiger Zeitung so:
Alle vormals Beschuldigten werden als Zeugen befragt, die Gespräche dauern Stunden. Es gibt so viel zu sagen. Sie alle stellen eine Frage: warum?
- Will sich Josephine überlegen fühlen, wie die Rechtspsychologin vermutet?
- Ist sie eine notorische Lügnerin, wie ihr Kollege sagt?
- Ist es die Sucht nach Aufmerksamkeit, wie der Ex-Mann glaubt?
- Ist es Eifersucht, wie die Mutter meint?
- Oder ist es am Ende die Sehnsucht, ein Opfer zu sein?
Die heute 26-Jährige hatte zahlreiche Menschen beschuldigt, sie immer wieder sexuell missbraucht zu haben. Die Rede war von einem großen Täternetzwerk, von schwarzen Messen im Wald, umgedrehten Kreuzen, getöteten Babys, brutalen Orgien, ominösen Regelwerken, einer dissoziativen Identitätsstörung, einer Art Programmierung des kindlichen Geistes und vielem mehr.
Im Juni 2023 verurteilte das Braunschweiger Landgericht die Mutter von Josephine R. zu mehr als 13 Jahren Haft, den Stiefvater zu neuneinhalb Jahren. Am 6. März 2024 hob der Bundesgerichtshof das Urteil gegen die Eltern auf. In einem neuen Verfahren gab es einen „Freispruch erster Klasse, ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld“, so die Richterin.
Die Ex-Freundin des vermeintlichen Opfers sitzt derzeit immer noch eine Haftstrafe von sechs Jahren und fünf Monaten ab. Miriam A. ist hoch wahrscheinlich unschuldig, legte aber 2022 ein Geständnis ab, dass auch sie Josephine R. sexuell missbraucht hätte. Mittlerweile scheint klar zu sein, dass Miriam A. gelogen hat – wohl aus „blinder Liebe“ zu Josephine R.(Süddeutsche), um ihrer Lebensgefährtin mehr Glaubhaftigkeit zu verschaffen.

Wie konnte das passieren?
Selbstverständlich war es richtig, den Vorwürfen nachzugehen, stellt Piltz im Spiegel klar:
Früher wurden solche Anschuldigungen übersehen, überhört, bagatellisiert, das ist lange vorbei. Heute gibt es bei Behörden, Justiz und Polizei eine Sensibilität, wenn es um Verdachtsfälle sexueller Gewalt geht. Den Opfern Glauben zu schenken, war eine wichtige Forderung der #MeToo-Bewegung.
Doch was dann geschah, ist das Gegenteil dessen, was Liz Wieskerstrauch behauptet:
- „Nur das, was die Anklage belegte, wurde als Fakt akzeptiert“, erklärt die Rechtspsychologin Susanna Niehaus im Spiegel.
- Es sei wichtig, offen für Gegenargumente zu sein. „Aber das habe ich bei der Staatsanwältin nicht gespürt“, sagt die Rechtspsychologin Bettina Reinhold in der Braunschweiger Zeitung. Als Gutachterin ging Reinhold bei Josephine R. von einer Mischung aus Falschbezichtigungen und Scheinerinnerungen aus.
- Von einem „Systemversagen“ spricht Susanna Niehaus in der Braunschweiger Zeitung:
Einer der Hauptgründe: die fehlende professionelle Distanz der Beteiligten und ihre emotionale Befangenheit. Angefangen beim Therapeuten von Josephine R., über die Staats- und die Opferanwältin bis in die Justiz stoße man immer wieder auf „suggestive Vorgaben und schwer mitgenommene Äußerungen anstelle der gebotenen Neutralität“.
Die Behörden hätten sich in die Irre führen lassen, ein Fehler baute auf dem anderen auf, Fakten wurden umgedeutet“, Gegenbeweise „nicht wahrgenommen“ oder „weggeredet“.

Niehaus hat sich bereits in der Vergangenheit mit dem Thema „rituelle Gewalt“ beschäftigt. Im Zusammenhang mit Josephine R. führt sie aus:
Dass viele Verfahrensbeteiligte der jungen Frau „praktisch blind gefolgt sind“, habe aber nicht allein mit Josephines (und Miriams) Manipulationskünsten zu tun.
Niehaus sieht auch den Einfluss einer Verschwörungserzählung: die der „Rituellen Gewalt“ mit seit der Kindheit antrainierter Bewusstseinskontrolle. Ein unhaltbares Konstrukt, betont die Professorin.
Josephine R. bediene diese Erzählung und versorge ihre Anwältin und Therapeuten mit einschlägiger Literatur – die ihren Weg bis zur neunten Strafkammer findet. Auf diese Weise stelle sie sicher, dass man alle Widersprüche in ihrem Sinne einordnet, „was erschreckend gut gelingt“.
Auch staatliche Stellen spielen eine Rolle: So sagt Josephines Therapeut vor Gericht, er habe sich auf der Homepage der Missbrauchsbeauftragten des Bundes über das Thema informiert und festgestellt: „Das passt auf meine Patientin.“
Und schon hatten seine Annahmen einen offiziellen Anstrich.
Aus Niehaus‘ Sicht ist das „falsch verstandener Opferschutz“. Denn nach Fällen wie dem von Josephine R. hätten es tatsächliche Opfer nur umso schwerer – weil die grundlegende Skepsis wächst.

Der deutsch-schweizerische forensische Psychiater Frank Urbaniok hat dieses Dilemma schon vor geraumer Zeit erkannt:
Es gibt grausamste und fürchterliche Formen des sexuellen Missbrauchs und brutaler Gewalt. Häufig sind die Folgen für Opfer dramatisch. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, dass ihnen geglaubt wird.
Viele von ihnen kommen nicht zu ihrem Recht und sind allein schon aufgrund ihrer psychischen Situation nicht in der Lage, zum Beispiel einen Strafprozess durchzustehen.
Hier gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf.

Gleichzeitig gibt es aber auch das Phänomen von Falschbeschuldigungen.
Es kommt im Spektrum von klassischen False-Memories (Betroffene sind subjektiv der Überzeugung, dass ihre falschen Erinnerungen der Wahrheit entsprechen), aggravierten Erinnerungen (realer Kern, der subjektiv ausgebaut und verstärkt wird), subjektiv verzerrten, aber legitim erlebten Wahrheiten bis hin zu direkten und auch taktisch motivierten Falschbeschuldigungen vor.
Letztere kommen zum Beispiel häufig in strittigen Trennungssituationen vor, indem vor allem Mütter die Väter irgendwelcher Übergriffe beschuldigen, um sich taktische Vorteile zu verschaffen.
Die Folgen für die zu Unrecht beschuldigten Männer sind gravierend und führen oft zu behördlichen Maßnahmen, indem nun den Kontakt zu den Kindern abgebrochen oder von Amtspersonen überwacht wird.
Menschen, die mit solchen Falschbeschuldigungen konfrontiert werden, sind ebenfalls Opfer. Auch sie sind oft von dramatischen Folgen betroffen und haben es schwer, dass ihnen Glauben geschenkt wird und sie zu ihrem Recht kommen.
Es ist falsch, in einer polarisierten Diskussion beide Opfer gegeneinander auszuspielen.
Und deshalb „bereichert“ ein Film wie „Blinder Fleck“ mitnichten „den Diskurs“, wie die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) naiverweise meint. Im Gegenteil: Er trägt zu einem konstruktiven und zeitgemäßen Diskurs nichts bei.
Kritischer reflektiert im Nachhinein der Journalist Erik Westermann seine Rolle im Fall Josephine R., der als Prozessbeobachter der Braunschweiger Zeitung „unbewusst Unwahrheiten verstärkt und sie vielen Lesern zugänglich gemacht“ hatte.
Heute schreibt er:
Im besten Fall erinnert Josephine R. uns an einige fundamentale Dinge:
Dass guter Wille und Betroffenheit schlechte Ratgeber sind, die in die Befangenheit führen. Dass es einen klaren Blick braucht, um zu einem objektiven Urteil zu kommen, und Emotionen ihn trüben. Dass man Zweifeln nachgehen muss und nicht der Herde folgen darf.
Das ist es, was ich mitzunehmen versuche. Für all die tatsächlichen Opfer da draußen. Und die Unschuldigen, die hoffentlich nie dazu werden.
Auch wenn das für einige von ihnen zu spät kommt.
Quellen:
- Piltz, Christopher „Der Fall Josephine R. – Auf den Spuren eines deutschen Justizskandals“ spiegel (30. März 2025)
- Westermann, Erik „Die erfundene Hölle – auf den Spuren eines Justizversagens“ Braunschweiger Zeitung (28. März 2025)
- Westermann, Erik „Kommentar: Wenn Mitgefühl Schaden anrichtet“ Braunschweiger Zeitung (28. März 2025)
- Rupflin, Alexander „Sie log und manipulierte – bis ihre Eltern ins Gefängnis mussten“ zeit (26. Februar 2025)
- Ramelsberger, Annette „Im Zweifel für den Zweifel“ Süddeutsche (15. Januar 2025)
- Urbaniok, Frank „Falschbeschuldigungen“ frankurbaniok.com (27. November 2025)
- Podcast „Falschbeschuldigung: Fälle aus der Staatsanwaltschaft“ Psychologos (19. November 2024)
- Podcast „Analyse des Erfahrungsberichts Falschbeschuldigung“ Psychologos (29. Oktober 2024)
- Podcast „Falschbeschuldigung: Erfahrungsbericht Teil 2“ Psychologos (8. Oktober 2024)
- Podcast „Falschbeschuldigung: Erfahrungsbericht Teil 1“ Psychologos (17. September 2024)
- Podcast „Falschbeschuldigung – eine unterschätzte Straftat“ Psychologos (27. August 2024)
- Schulze, Kristof „Verschwörungserzählungen in der Psychotherapie: Satanic panic“ psychisch-gesund (1. Februar 2023)
- Friedrich, Florian „Rituelle Sexuelle Gewalt ist eine Legende“ meinbezirk (29. März 2025)
- Friedrich, Florian „Falsche Erinnerungen und Mind Control“ meinbezirk (19. März 2025)
- Friedrich, Florian „Rituelle Gewalt und andere Verschwörungstheorien“ meinbezirk (23. Februar 2025)
- Friedrich, Florian „Satanistische Verschwörungstheorien und False Memory“ meinbezirk (17. Februar 2025)
- „Fachtexte über RG-MC“ bei dissoziationen
- Harder, Bernd „Rituelle Gewalt-Mind Control: Glauben und Gefühle statt Fakten und Argumente“, skeptix (15. Januar 2025)
- Harder, Bernd „Die Verschwörungsideologie vom satanistisch-rituellen Missbrauch“ EI-Tagungsband 2023 (18. Dezember 2023)
- Benecke, Lydia „WTF-Talk – Satanic Panic Update 2“ youtube (15. Juli 2024)
Titelfoto: Pixabay/geralt
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