Interview: Die Suche nach „verdrängten Erinnerungen“ richtet massiven Schaden an

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Das Wissen über die Beeinflussbarkeit des Gedächtnisses sollte „systematisch in die Psychotherapieausbildung integriert“ werden. Das fordert die renommierte Rechtspsychologin Renate Volbert in einem Gespräch mit Zeit Verbrechen.

Im zweiten Teil einer Serie zum Phänomen der falschen Erinnerungen erklärt Volbert, dass Scheinerinnerungen bei Erwachsenen meist mit psychischen Problemen einhergehen „und mit dem Wunsch, Erklärungen für ihr Leid zu finden“. Hinzu komme die verbreitete [falsche] Überzeugung, dass man sich an besonders traumatische Erlebnisse oft nicht erinnere, weil sie verdrängt würden.

Volbert:

Diese Menschen kommen meist nach einem langen Leidensweg zu der Überzeugung: „Mir muss etwas Schlimmes passiert sein, was meine Symptomatik erklärt.“

Dabei gehen psychische Erkrankungen nicht notwendigerweise auf ein Trauma zurück. Es kann viele Ursachen geben, eine erbliche Disposition zum Beispiel.

Aber mit dieser falschen Vorstellung machen sich viele auf die Suche nach verdrängten Erinnerungen. Zum Teil alleine, in selteneren Fällen mithilfe von Therapeuten. Diese Bemühungen sind ein typisches Einfallstor für Scheinerinnerungen.

In den vergangenen Jahrzehnten habe sich die Vorstellung vom verdrängten Trauma stark verbreitet und mit ihr das Phänomen der Scheinerinnerungen:

Teilweise hat diese Idee auch in die professionelle Psychologie Eingang gefunden. Entsprechende Falschinformationen wurden sogar auf seriösen, ministeriell geförderten Websites verbreitet.

Vor einiger Zeit haben wir Psychotherapeuten dazu befragt, ob sie es als ihre Aufgabe sehen, verdrängte Erinnerungen wiederzuentdecken. Diejenigen, die mit Ja geantwortet haben, waren allerdings deutlich in der Minderheit.

Allerdings sind 20 Prozent nicht gerade wenig:

https://kurzlinks.de/xk28

Und dieses Unwissen „schadet letztlich den Patienten“:

Die Verläufe, die wir sehen, gleichen einer Negativspirale. Die Patienten merken ja irgendwann: Es geht ihnen nicht wirklich besser. Und so versuchen sie, immer mehr Erinnerungen wachzurufen, sie denken: Da muss noch mehr sein!

Auch da werden wir bei Begutachtungen stutzig: wenn immer wieder neue Erinnerungen hinzukommen, immer neue Beschuldigungen, immer umfangreichere Szenarien.

Allerdings hat es zum Beispiel im Fall „Josephine R.“ ganz schön lange gedauert, bis mal jemand stutzig geworden ist.

https://kurzlinks.de/ubav

Bei Zeit Verbrechen tritt Volbert auch dem Vorwurf entgegen, dass ihre Arbeit „Täter schützt“ – im Gegenteil:

Bei den Fällen, bei denen wir hinzugezogen werden, herrscht meist eine Aussage-gegen-Aussage-Situation, was eine Verurteilung schwierig macht.

Bei nicht wenigen können wir mit unseren Gutachten zeigen, dass es bei den mutmaßlichen Geschädigten keine suggestiven Prozesse gegeben hat. Und dass die Aussagequalität dafürspricht, dass das Erzählte so stattgefunden hat.

Ihr Fazit:

Wir müssen jeden Fall einzeln betrachten […] Denn wir wissen, dass es Scheinerinnerungen und Falschbehauptungen gibt. Das ist zwar nur ein kleiner Teil der Fälle. Aber es gibt sie.

Über den ersten Teil der Zeit Verbrechen-Serie hatten wir im Oktober berichtet. Darin geht es um die Doku „Blinder Fleck“ und den bemerkenswerten Umstand, dass der Hauptfaden des Films auf einem Fall von Scheinerinnerungen und Falschbehauptungen beruht – was die Regisseurin bei einer Vorstellung in Konstanz in Erklärungsnot brachte.

Zum Weiterlesen:

Titelfoto: Freepik

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