Sie will von ihrer besten Freundin im Wald bewusstlos geschlagen worden und später „in einer Art Gruft aufgewacht“ sein – um sie herum Pentagramme und umgedrehte Kreuze. Kerzen haben geleuchtet, und dann kamen Menschen in Kutten in den Raum. Und was sie dann erlebt hat, sei „wirklich blutrünstig“ gewesen: „Der schlimmste Alptraum.“
Mit solchen abstrusen Schilderungen hat die heute 26 Jahre alte Josephine R. drei Menschen ins Gefängnis gebracht, mehrere Dutzend Verfahren initiiert und einen der größten Justizskandale in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt.
Mittlerweile sind zwei der drei verurteilten Personen wieder frei, und Medien wie der Spiegel und die ortsansässige Braunschweiger Zeitung versuchen, den spektakulären Fall im Nachhinein irgendwie einzuordnen.
Drei Monate nach der umfangreichen Recherche (wir berichteten hier) erzählt Spiegel-Redakteur Christopher Piltz bei Shortcut von seinen Einblicken:

Der entscheidende Satz:
Das alles klingt wie aus einem Horrorfilm.
Ja – nur wieso wollte das niemand sehen?
Piltz weiter:
Und das klingt, muss man auch sagen, eigentlich schon so drüber, dass man sich fragen muss: Ist das eigentlich noch mit der Realität vereinbar, dass sie das alles erlebt hat? Der Therapeut hat aber nichts davon hinterfragt.
Er hat auch keinen Realitätsabgleich vorgenommen, etwas, was Therapeuten eigentlich machen sollten, sondern er hat alles aufgenommen und so verarbeitet, als wäre es wirklich passiert.
Ist es aber nicht.
Stattdessen haben die Beteiligten
… nur das gesehen, was man sehen wollte. Und was wollte man sehen? Dass Josephine das Opfer ist, die anderen sind die Täter.
Allerdings gibt es auch den aktuellen Fall Gisèle Pelicot – wie also soll man sich in dem Spannungsfeld zwischen ernst nehmen und Skepsis verhalten? Jedenfalls nicht „blind folgen“, wie es bei Josephine R. praktisch alle taten, obwohl die Widersprüche und Unplausibilitäten mit Händen greifbar waren.
Zu diesem Thema gab es im vergangenen Jahr eine Veranstaltung vom Netzwerk Recherche:
Wie kritisch sollten Erzählungen von Missbrauchsopfern hinterfragt werden?

Bei Shortcut erwähnt Piltz auch die Rechtspsychologin Susanna Niehaus von der Hochschule Luzern, die gerade den Aufsatz „Traumatherapie und ihre Schattenseiten: Über unerwünschte Nebenwirkungen müssen wir reden, statt sie zu verharmlosen“ publiziert hat.
Darin plädiert sie für einen Fachaustausch zwischen Kliniker:innen und Forensiker:innen, um „Suggestionsrisiken unterschiedlicher traumafokussierter Techniken differenzierter einschätzen zu können“:
Dringend notwendig erscheint uns im Sinne einer evidenzbasierten psychotherapeutischen Praxis angesichts aktueller Zahlen zum hohen Verbreitungsgrad problematischer Fehlüberzeugungen und Therapieziele unter Psychotherapeut:innen schließlich ein lange überfälliges Abrücken von empirisch widerlegten, aber populärwissenschaftlich verbreiteten Fehlannahmen wie der vermeintlichen Verdrängung oder Abspaltung traumatischer Erlebnisse, welche den zentralen Nährboden für (auto-)suggestive Prozesse bilden.
Zum Weiterlesen:
- Sepp, Maximilian „Die Geschichte eines spektakulären Justizskandals“ spiegel (11. Juni 2025)
- Harder, Bernd „Die blinden Flecke einer Verschwörungstheorie: Satanic Panic-Update 3 im WTF-Talk“ skeptix (5. Juni 2025)
- Niehaus, Susanna/Sonnicksen, Michaela „Traumatherapie und ihre Schattenseiten: Über unerwünschte Nebenwirkungen müssen wir reden, statt sie zu verharmlosen“ Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (23. Mai 2025)
- Harder, Bernd „Der Fall Josephine R. und der blinde Fleck der Rituelle-Gewalt-Verschwörungstheorie“ skeptix (20. April 2025)
- Rettenberger, Martin/Leuschner, Fredericke „Fehlurteile in Deutschland: Konsequenzen für Begutachtung und Urteilsfindung“ Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (9. April 2025)
- Piltz, Christopher/Lakotta, Beate „Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt: Im Wahn der Therapeuten“ spiegel (12. März 2023)
- Birzele, Anna/Liebrand, Bianca „Gedächtnis, Erinnerung und ihre Tücken“ EI-Tagungsband 2023
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