Myers‘ Cocktail: Gerührt oder geschwurbelt

(Lesedauer ca. 10 Minuten)

von Sabine Breiholz

Drip Bars sind der neueste Hype in Deutschland. In Großstädten wie Frankfurt, Köln, München oder Hamburg verabreichen meist Heilpraktiker:innen – also Personen ohne Expertise in invasiven Methoden –  intravenös Vitamin- und Mineralstoff-Lösungen, die oft „Drips” genannt werden.

Beauty Drips sollen Haut und Haare verschönern, Detox Drips sollen Giftstoffe aus dem Körper schwemmen, Hangover Drips den Kater lindern und Immun Drips unsere Gesundheit stärken. Drip Bars versprechen also eine Lösung für viele gesundheitliche Probleme. Die Anbieter:innen kommen teilweise sogar zu einem nach Hause.

Der Trend kommt – wie so häufig – aus den USA. Influencer:innen wie Kim Kardashian, Katy Perry oder Justin Timberlake promoten diese Behandlung. In Großbritannien teilen Victoria Beckham und Adele ihre positiven Erfahrungen in den Sozialen Medien – meist kombiniert mit Fotos von Infusionslösungen und -katheter auf einem Tablett dekoriert. Auch Luna Schweiger, die Tochter von Til Schweiger, machte auf Instagram Werbung für diese intravenöse Wellnesstherapie. 

Grundlage für die Drips ist Myers‘ Cocktail – ein Mix aus verschiedenen Vitaminen und Spurenelementen; hinzu kommen Magnesium, Calcium, Kalium, Molybdän, Chrom und diverse andere Stoffe. Dieser Mix wird mit einer Infusion intravenös verabreicht und deswegen auch als intravenöse Vitamintherapie (IVVT) bezeichnet.

Es handelt sich allerdings nicht um eine medizinische Behandlung. Die Mixtur wird dem Arzt John A. Myers aus Baltimore (USA) zugeschrieben. Vor seinem Tod im Jahr 1984 soll Myers seinen Patienten Vitamin-Infusionen verabreicht haben. Trotz gegenteiliger Behauptungen ist die ursprüngliche Zusammensetzung jedoch unbekannt. 

Problematisch sind aus der Perspektive des Verbraucherschutzes mehrere Aspekte:

  1. Es gibt keine offiziellen Indikationen für diese Infusionen.
  2. Sie werden intravenös verabreicht; in Deutschland dürfen dies auch Heilpraktiker:innen – also Menschen, die keine Expertise in sogenannten invasiven Verfahren vorweisen müssen. Mittlerweile empfehlen ihre Berufsverbände allerdings den Erwerb des sogenannten „Spritzenscheins” als Fortbildung.
  3. Diese Drip-Infusionen können Nebenwirkungen haben, bei schwerwiegenden Fällen ist aber kein medizinisches Fachpersonal vor Ort.

Welche Inhaltsstoffe enthalten Drips?

Die Inhaltsstoffe von Myers‘ Cocktail oder den Drips können individuell verschieden sein. In der Regel enthalten sie Stoffe aus folgender Liste mit entsprechender (auch abweichender) Dosierung:

Vitamin C  5000 mg, teilweise höher bis 25.000 mg

Vitamin B1 (Thiamin) 100 mg 

Vitamin B6 (Pyridoxin) 25 mg

Vitamin B12 (Cyanocobalamin) 1000 µg  

Folsäure 5 mg  

Dexpanthenol 250 mg 

In sehr unterschiedlichen Zusammensetzungen finden sich auch einige dieser oder gleich alle der folgenden Stoffe:     

Magnesium 

Calcium

Kalium   

Zink 

Kupfer 

Mangan

Chrom 

Ammoniummolybdat 

Selen

Weitere Stoffe sind Biotin, Glutathion, Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+) und Aminosäuren.

Die Anwendung erfolgt individuell, zum Beispiel einmal oder zweimal pro Woche oder auch „nur” einmal im Monat.

In Großbritannien werden auch verschreibungspflichtige Arzneimittel in den Drips verabreicht. Seit 2017 bietet das Unternehmen Effect Doctors seine Anti-Kater-Infusionen auf dem Megafestival Glastonbury an.

Neben Vitaminen und Mineralstoffen enthalten diese Infusionen zusätzlich Paracetamol, einen Entzündungshemmer (z.B. Ibuprofen) und Ondansetron. Dieses verschreibungspflichtige Arzneimittel wird in Krankenhäusern in der Chemotherapie gegen Übelkeit und Erbrechen eingesetzt. Leider gibt es wenig Widerstand von Seiten der Medizin gegen diesen Trend. Es ist schnell verdientes zusätzliches Geld für unterbezahlte Assistenzärzt:innen mit hohen Studienkrediten, die für das staatliche Gesundheitssystem NHS arbeiten.

Wer bietet in Deutschland die Behandlung von Myers‘ Cocktail an?

Myers‘ Cocktail wird in Deutschland u.a. von Kosmetikstudios und in Naturheilpraxen  von Heilpraktiker:innen (HP) angeboten. Letztere dürfen intravenöse Zugänge legen, wenn es sich nicht um apotheken- oder verschreibungspflichtige Arzneimittel handelt – dies ist bei Myers‘ Cocktail-Infusionen der Fall.

Die Kosten belaufen sich bei den Drip Bars zwischen 219 und 399 EUR. Sie kommen auch „ganz bequem” nach Hause (das ist allerdings mit zusätzlichen Kosten verbunden).

Vereinzelt bieten auch privatärztliche Praxen für Naturheilkunde, Hautärzte und Orthopäden diese Behandlung in Deutschland an.

Aus welcher Quelle beziehen die Behandler Myers‘ Cocktail?

Apotheken, die Myers‘ Cocktail selbst herstellen, habe ich in Deutschland nicht gefunden. Vermutlich besorgen sich die Anwender:innen die Komponenten einzeln und verabreichen diese dann mit Hilfe der Infusionslösung. 

Professionalisierte Anbieter:innen wie die Drip Bars bieten fertige Beutel für verschiedene „Indikationen” an. Laut Infusionsbeutel ist die Apothekenmanufaktur der Hersteller, produziert wird offenbar in Deutschland, wie beispielsweise der NAD + Drip von DripDip..

Wie soll Myers‘ Cocktail wirken?

Die Anbieter:innen von Myers‘ Cocktail behaupten, dass er das Wohlbefinden auch bei Menschen verbessern kann, die keinen Vitamin- oder Mineralstoffmangel haben. 

Sie  behaupten ebenfalls, dass diese Infusionen Folgendes bewirken können:

  • Behandlung von Dehydrierung nach extremer körperlicher Anstrengung oder übermäßigem Alkoholkonsum
  • Stärkung des Immunsystems
  • Erhöhung des Energieniveaus und Verringerung der Müdigkeit
  • Stress, Ängste und Depressionen abbauen
  • Ausscheidung von Giftstoffen aus dem Körper
  • gesündere Haut
  • Behandlung von Asthma, Allergien, chronischer Nasennebenhöhlenentzündung, Bluthochdruck, Fibromyalgie, Diabetes, Herzerkrankungen, akuten Muskelkrämpfen und Parkinson-Krankheit
  • Behandlung von Migräne und Spannungskopfschmerzen

Gibt es Belege für die Wirksamkeit?

Es gibt keine ausreichenden Belege, dass diese Mixtur die oben genannten Wirkungen hat oder zur Behandlung einer Krankheit wirksam ist. Was genau bei einer Drip Bar-Infusionstherapie verabreicht wird, kann variieren. Leitlinien, die die Behandlung transparent und standardisiert gestalten würden, gibt es für diese Infusionstherapien nicht.

Meist gelangen also undefinierte Mischungen verschiedener Stoffe in den Blutkreislauf. Es hängt davon ab, ob sich die Kundschaft „mehr Energie”, ein „stärkeres Immunsystem” oder ein „weniger müdes Aussehen” wünscht. Eine Studie mit 34 Probanden:innen mit Fibromyalgie kam beispielsweise zu dem Ergebnis, dass sich die Placebo-Gruppe nicht nennenswert von der Kontrollgruppe unterschieden hat.

In den USA gab es im Jahr 2018 eine Anklage der Federal Trade Commission (FTC) gegen ein Unternehmen, das den Myers Cocktail und andere intravenöse Vitamin- und Mineral-Infusionen vermarktet und verkauft hat, weil es irreführende und nicht belegte gesundheitsbezogene Angaben über die Fähigkeit dieser Infusionen gemacht habe, z.B. zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs, Multipler Sklerose, Diabetes, Fibromyalgie und Herzinsuffizienz.

Seitdem muss das Unternehmen schriftlich darüber aufklären, dass es keine Belege für eine Wirksamkeit gibt, und dass die Konsument:innen immer erst mit dem Hausarzt/der Hausärztin sprechen sollen, bevor sie sich dieser Pseudo-Behandlung unterziehen.

Welche Komplikationen können bei der Behandlung mit Myers‘ Cocktail auftreten?

Bei Menschen mit anomalen Magnesium- oder Kaliumspiegeln im Blut können Infusionen, die Magnesium oder seltener Kalium enthalten, Herzrhythmusstörungen oder Muskelschwäche verursachen.

Wird die Infusion zu schnell verabreicht, kann sie den Blutdruck senken (wahrscheinlich aufgrund des Magnesiums), was zu Benommenheit und Ohnmacht führen kann. Bei manchen Menschen kann es jedoch zu einem allmählichen Anstieg des Blutdrucks kommen. Wenn Leber und Nieren großen Mengen an Vitaminen ausgesetzt werden, kann dies eine erhebliche Belastung für sie darstellen.

Das National Institute for Clinical Excellence (NICE) hat Unternehmen in den UK untersagt, Infusionen anzubieten, ohne zuvor die Leber- und Nierenfunktion zu überprüfen.

Daneben kann es zu folgenden Überdosierungen kommen:

  • Vitamin C: Bei einer Überdosis Vitamin C produziert der Körper mehr Oxalate. Diese sind in hoher Konzentration giftig und sie reduzieren die Aufnahme wichtiger Nährstoffe wie Calcium, Eisen und Magnesium. Außerdem erhöht zu viel Oxalat im Körper das Risiko für Nierensteine.
  • Elektrolyte: Akute Veränderungen der Elektrolyte, zum Beispiel durch Überdosierungen von Kalium, können zu tödlichen Herzrhythmusstörungen führen.
  • Natrium: Wird der Natriumspiegel durch eine Infusionstherapie manipuliert, beispielsweise mit isotonischer Kochsalzlösung, kann das zu einer Hirnhernie – einer Verschiebung des Hirngewebes weg von seiner normalen Position – oder zu einem Schlaganfall führen.
  • Magnesium: Eine schnelle Ansammlung von Magnesium kann zu einer Reihe neurologischer Symptome wie Verwirrung, prickelnden Schmerzen und Muskelschwäche/-zittern führen.
  • Vitamin A: Bei einer Überdosis Vitamin A kann es zu Sehstörungen kommen, in Deutschland darf von Heilpraktiker:innen kein Vitamin A verwendet werden.  

Weiterhin besteht bei einer wöchentlichen Infusionstherapie ein erhöhtes Risiko einer Hyperhydratation (Überschuss an Wasser im Körper), die zu Blutdruckanstieg, Gewichtszunahme oder einer Wasservergiftung führen kann. Diese kann Herzrhythmusstörungen auslösen. Außerdem können sich durch eine Wasservergiftung Lungen- oder Hirnödeme bilden. Letztere sind oft lebensgefährlich. 

Meist wird die Behandlung in Deutschland durch nicht-medizinisches Personal angeboten, also Heilpraktiker:innen. Das erhöht das Risiko von 

  • Venenentzündungen
  • Paravasationen (die Flüssigkeit läuft nicht in die für die Infusion vorgesehene Vene, sondern in das Armgewebe) 
  • Luftembolien 
  • Infektionen durch Hautverletzungen und oder verunreinigte Infusionen

Im Oktober 2021 veröffentlichte die FDA einen Bericht über eine 50-jährige Frau, die nach einer Vitamininfusion mit einer schweren Mageninfektion ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Bei der Inspektion stellte sich heraus, dass das Mischen der Vitamininfusion in einem Bereich mit schmutziger Ausrüstung, Staub und abblätternder Farbe erfolgte, und dass die verwendete Infusion bereits abgelaufen war.

Beispiele für Wechselwirkungen von Myers‘ Cocktail mit Arzneimitteln

  • Die intravenöse Gabe von Vitamin B6 kann zu einem schlechteren Ansprechen auf Arzneimittel zur Stimulierung der Blutbildung führen (z. B. Erythropoetin).
  • Magnesium kann mit Antihypertensiva (Arzneimittel gegen hohen Blutdruck) interagieren, dies kann zu niedrigem Blutdruck führen.
  • Ceftriaxon kann sich mit infundiertem Calcium im Blut verbinden, diese Kombination könnte die Nieren, die Lunge oder die Gallenblase schädigen.
  • Vitamin K und gerinnungshemmende Arzneimittel: Bei einer Überdosierung mit Vitamin K besteht die Gefahr der Wirkminderung/Wirkungsverlust.

Fazit von Ärzt:innen, Verbraucherschutzorganisationen, gesetzlichen Krankenkassen und wissenschaftlichen Quellen

In Deutschland raten gesetzliche Krankenkassen, wie z.B. die AOK, aber auch Spektrum der Wissenschaft, Ärzt:innen und Stiftung Warentest von der Behandlung ab. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) warnt sogar ausdrücklich davor. Ihr Vorsitzender Jan Galle sagt:

„Aus medizinischer Perspektive handelt es sich bei den teils sehr hochpreisigen Infusionen um reine Geldmacherei ohne nachgewiesenen gesundheitlichen Nutzen.“

Menschen ohne Nährstoffmangel benötigen keine Nahrungsergänzungsmittel, schon gar nicht als Infusionstherapie. Es sind letztlich teure, aber wirkungslose (bzw. im schlimmeren Falle schädliche) Wellness-Anwendungen. Für Menschen mit Vorerkrankungen können sie ernsthafte Gefahren darstellen.

Da wie bei jeder Infusion das Risiko für Infektionen an der Einstichstelle, allergische Reaktionen auf die verabreichten Substanzen sowie Kreislaufprobleme durch schnelle Flüssigkeitszufuhr erhöht ist, sollte die Verabreichung von Infusionen immer unter ärztlicher Aufsicht erfolgen.

Trotzdem kann es gefährlich werden: So hat der Allgemeinmediziner Tassilo Scherbe früher selbst Immun-Infusionen angeboten. Davon hat er mittlerweile Abstand genommen, weil es zweimal zu einem lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock gekommen ist.

Der Kasseler Hausarzt Dr. Uwe Popert versteht nicht, dass Menschen sich eine Infusion legen lassen, mit Inhaltsstoffen, die man eigentlich auch als Tablette schlucken könnte. Er hält es für leichtsinnig:

„Eine Evidenz dafür, dass das notwendig ist, gibt es nicht, sondern das scheint eine Modeerscheinung zu sein.“

Dr. Popert weiter:

„Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum man dafür einerseits viel Geld ausgeben würde und andererseits das Risiko einer relativ einschneidenden Maßnahme eingehen will“.

Bleibt die Hoffnung, dass mit mehr Aufklärung auch diese zweifelhafte „Mode” wieder in der Versenkung verschwindet, erste Anzeichen dafür sind jedenfalls da: In London sind die Drip Bars, die es dort vor einigen Jahren zuhauf gab, zum Großteil schon wieder verschwunden.


Über die Autorin:

Sabine Breiholz ist PTA, Diplom-Biologin und hat einen Master in Consumer Health Care. Ihr skeptisches Interesse gilt insbesondere der Pseudomedizin und Ernährungsmythen.
Link zu ihrem Vortrag bei Skeptics in the Pub Köln: Ode an die E-Nummern – warum Lebensmittelzusatzstoffe unsere Ernährung besser machen

Quellen

Titelfoto: Unsplash/Karolina Grabowska

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