Die Szene reagiert überaus vorhersehbar auf die Zeit Verbrechen-Serie zum Thema Falscherinnerungen mit den bisher erschienen zwei Folgen:
- „Erinnerungen sind anfällig“
- „Erinnerst du dich?“ – Gefangen in Scheinerinnerungen
Vor allem bei Instagram demonstriert man weiterhin Faktenresistenz:

In einem aktuellen Welt-Interview beantwortet der forensische Psychiater Frank Urbaniok noch einmal die Dauerfragen dazu, etwa warum Patient:innen wie Therapeut:innen nach Konstrukten wie „ritueller“ Missbrauch greifen:
Nicht selten gehen Falschbeschuldigungen von Personen aus, die fast dankbar nach dem Konstrukt sexueller Missbrauch greifen, weil für sie eine Identität als Opfer psychologisch attraktiv ist. Denn nun können sie sagen: „Endlich habe ich eine Erklärung für alle Probleme in meinem Leben.“
Das bedeutet für sie Anerkennung, Mitleid und die Sicherheit: Ich bin gut, alle anderen sind böse. Das ist ein identitätsstiftendes Narrativ.
Auch für den Therapeuten das eine Art Gewinn: Er hat vorbildliche Arbeit geleistet und die verschüttete Wahrheit aufgedeckt. Manche Therapeuten sind sehr anfällig für Befangenheit: Schablonenhaft stülpen sie ihren Patienten vermeintlich universelle Erklärungen über – und das ist das Gegenteil von Ergebnisoffenheit.
Die Idee des Unbewussten ist hierbei ein Einfallstor für alle möglichen Absurditäten. Sie können als Therapeut immer sagen: „Der Patient kann das gar nicht wissen. Nach außen wirkt er vielleicht so, aber nach innen ist es ganz anders.“
Das ist leider sehr weitverbreitet. Mich stört das wahnsinnig.

Und natürlich gibt es Scheinerinnerungen:
Ein klassischer Versuchsaufbau funktioniert so: Der Untersucher geht zu Ihren Eltern und fragt nach zwei Geschichten aus Ihrer Kindheit – eine, die passiert ist, und eine, die hätte passiert sein können.
Im Anschluss werden Ihnen beide Geschichten erzählt.
Von den Versuchsteilnehmern können 50 Prozent die falsche Geschichte nicht identifizieren und 30 Prozent entwickeln falsche Erinnerungen daran: Stimmt, das Pony war schwarz, es war ein sehr kalter Tag, mein T-Shirt war blau.
Am Ende wiederholt Urbaniok zum x-ten Mal:
Selbstverständlich gibt es Opfer fürchterlicher Sexualstraftaten. Aber Falschbeschuldigte sind auch Opfer. Diese beiden Opfergruppen sollten wir nicht gegeneinander ausspielen.
Zwei aktuelle Recherchen dazu:
Die WAZ beschreibt,
… wie unzuverlässig unser Gedächtnis ist. Wie sehr psychisch labile Menschen unprofessionellen Therapeuten ausgeliefert sind. Und wie das unser Justizsystem herausfordert, und Familien zerstören kann.

Es geht um zwei Fälle:
Zum einen um die 25-jährige Luisa, die ihren Vater und Großvater des Missbrauchs beschuldigt. Die Mutter soll davon gewusst, die Taten gefilmt und ihre Tochter fremden Männern zugeführt haben.
Und auch hier findet sich wieder einmal der Satz:
Alle diese schrecklichen Taten habe sie lange verdrängt, gibt Luisa an. Bis sie in Berlin eine Traumatherapie startete. Der Experte habe ihr geholfen, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen.
Nichts davon stimmte, die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen schließlich ein.
Zum anderen um eine Frau namens Brigitte, die wegen Alltagsproblemen und Überforderung Hilfe suchte:
„Schon in der ersten Sitzung hat mir die Therapeutin gesagt, dass sie bei mir rituelle Gewalt sieht“, erzählt sie.
Brigittes Therapeutin habe sie zusätzlich an eine Lebensberaterin vermittelt. Die beiden hätten ihr erklärt: Sie sei in einen rituellen Kult hineingeboren. Schon als Kind habe sie Hasen und Katzen opfern müssen. Später habe sie während eines satanistischen Rituals ein Kind gebären müssen, das direkt nach der Geburt geopfert wurde.
Brigitte habe die Erinnerungen daran verdrängt. Das erkläre ihre aktuellen Probleme. Erst, wenn sie sich mit Hilfe der beiden Beraterinnen endlich erinnert, gehe es ihr besser. „Sie haben mir Filme und Bücher gegeben, in denen grausame Taten gezeigt wurden. Genau das wäre mir passiert, haben sie gesagt. Ab dann ging es in meinem Kopf völlig ab. Ich hatte Albträume bis zum Abwinken.“
Sprechen sollte sie darüber mit niemandem. „Sie haben mir gesagt, alle stecken da mit drin: Ärzte, Polizei, Anwälte.“
Aus dem Zusammenhang kann man schließen, dass es wohl um die Beratungsstelle „Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt“ in Münster geht, die 2023 vom Bistum geschlossen wurde, nachdem der Spiegel über den „Wahn der Therapeuten“ dort berichtet hatte.
Wie stark Betroffene immer noch unter dieser Quacksalberei leiden, schildert der Journalist Sebastian Fobbe im Münsteraner Online-Magazin Rums:

Ursula Michel (Name geändert) war bei einer der vom Spiegel inkriminierten Therapeutinnen in Behandlung:
Statt Hilfe zu erhalten, sei Ursula Michel immer weiter in Verwirrung geraten. Alles, was Michel ihrer Beraterin anvertraute, deutete Jutta Stegemann als Hinweis auf rituelle Gewalt.
Heute sagt Ursula Michel: Von all dem, was Stegemann ihr jahrelange erzählte, immer und immer wieder, stimmt – nichts […]
Je länger die Beratung dauerte, desto schlechter sei es Michel gegangen. Ständig sei sie von Horrorgeschichten über rituellen Missbrauch umgeben gewesen.
Pikant: „Immer wieder“ hätten sich Klientinnen über „die Art der Beratung“ in Münster beschwert, teilte die bischöfliche Pressestelle Rums mit:
Aber warum hatte niemand eingegriffen?
fragt Fobbe zu Recht.
Erst vor zwei Monaten, im Oktober 2025, räumte das Bistum Münster ein, dass die Schließung der Beratungsstelle „aus heutiger Sicht deutlich zu spät erfolgt“ sei – und veröffentlichte zugleich ein Gutachten über ein dutzend Fälle von angeblicher „ritueller“ Gewalt, das „keinen einzigen belastbaren Hinweis auf die beschriebenen Vorwürfe“ erbrachte.
Dazu zählen auch die Schilderungen einer jungen Frau (Seite 114 ff. des Gutachtens), die in der Doku „Blinder Fleck“ als eine der Kronzeuginnen auftritt. Eine weitere Protagonistin des Films ist von Zeit Verbrechen als völlig unglaubwürdig entlarvt worden.
Überhaupt ist auffallend, dass Rezensent:innen, die mit der RG-MC-Verschwörungstheorie vertraut sind, die Dokumentation von Liz Wieskerstrauch als das delusorische Machwerk identifizieren, das es ist (zum Beispiel hier oder hier) – während unbedarfte professionelle Filmkritiker allen Ernstes von einem „mutigen Aufklärungsfilm“ oder Ähnlichem sprechen (zum Beispiel hier oder hier). Sogar als „Besonders wertvoll“ wurde „Blinder Fleck“ von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) ausgezeichnet.
Beim „Snowdance Independent Film Festival“ im Februar in Essen ist die Doku als „beste Dokumentation“ nominiert. Die Sekteninfo NRW hat in einem Schreiben an die Verantwortlichen darauf hingewiesen, dass „Blinder Fleck“
… nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Thematik „Rituelle Gewalt“ entspricht und verschwörungstheoretische Inhalte unkritisch transportiert.
Die Einlassungen von Festivalleiter Thomas Bohn dazu könnten bezeichnender kaum sein. Bohn hebt „den Mut“ hervor, den es erfordere, sich diesem „sehr besonderen“ Thema anzunehmen. Er sei nach der Sichtung des Films „hin- und hergerissen“ gewesen, „von den Aussagen der Befragten und von dem spürbaren Leid der Betroffenen“. Ob dieses „nun von tatsächlichen Geschehnissen oder einer seelischen Erkrankung herrührt“, könne und wolle er nicht beurteilen.
Eine genau solche Einstellung hat die jahrzehntelangen Umtriebe in Münster erst ermöglicht. Dass Bohn in seiner Antwort den Film durchgehend „Schwarzer Fleck“ nennt, sagt eigentlich auch schon alles aus.
Zum Weiterlesen:
- Sostmann, Uma „Wie Therapeuten ihren Patienten sexuellen Missbrauch einreden“ welt (18. Dezember 2025)
- Fobbe, Sebastian „Die eingeredete Kranke“ rums (15. Dezember 2025)
- Sommer, Sophie „Falsche Erinnerungen: Mama, wurde ich als Kind missbraucht?“ waz (12. Dezember 2025)
- Harder, Bernd „Interview: Die Suche nach verdrängten Erinnerungen richtet massiven Schaden an“ skeptix (13. Dezember 2025)
- Harder, Bernd „The Devil You Know: Wie Verschwörungsnarrative in Psychotherapien gelangen“ skeptix (11. November 2025)
- Harder, Bernd „Wird der Dokumentarfilm Blinder Fleck immer mehr zu einer Münchhausen-Story?“ skeptix (22. Oktober 2025)
- Harder, Bernd „Bloß eine Scheinerklärung: Bistum Münster untersuchte ein Dutzend Fälle ritueller Gewalt“ skeptix (9. Oktober 2025)
- Harder, Bernd „Falscherinnerungen – das Thema, dem Wieskerstrauch und Co. sich standhaft verweigern“ skeptix (16. Juni 2025)
- Harder, Bernd „Rituelle Gewalt-Mind Control: Die vielen blinden Flecke des Dokumentarfilms Blinder Fleck“ skeptix (13. Juni 2025)
- Kammerer, Georg „Filmbesprechung Blinder Fleck von Liz Wieskerstrauch skeptix (6. Mai 2025)
- „Jutta Stegemann und eine zweifelhafte Therapie“ Infoportal Satanic Panic (10. April 2023)
Titelfoto: Freepik


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