von Sarah Grundner
Kürzlich, im Jahr 2024, ist es wieder passiert: Ein ‘Waldorfkind’ liegt mit einer gefährlichen Krankheit im Spital, gegen die es eine Impfung gegeben hätte, und wird auf der Intensivstation invasiv beatmet. Es ist nicht das erste Mal und wird auch ganz sicher nicht das letzte Mal sein.
Meistens sind es die Masern, aber diesmal ist es etwas anderes: Diphtherie. Eine Krankheit, die kaum noch jemand aus Erzählungen kennt und die längst nicht mehr relevant für uns ist, zumindest hier in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Der Fall macht also seinen Weg durch die Medien und landet natürlich auch in den sozialen Netzwerken.
Und hier passiert etwas, das für viele von uns #Exwaldi ein ziemlicher Schlag ins Gesicht war: Leute machen sich lustig über Waldorfschüler:innen (ja, okay, kennen wir schon), die “dummen” Waldorfeltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, und packen den Sozialdarwinismus aus: “Evolution regelt.” Autsch. Ist den Leuten eigentlich klar, was sie da sagen?
Ich bin in einem Impfgegner-Haushalt und so gut wie ohne evidenzbasierte Medizin groß geworden. Als ich auf die Welt kam, waren meine Eltern ganz normale Hippies. Gegen Kinderlähmung und Tetanus wurde ich noch geimpft, aber als die nächsten Impfungen dran gewesen wären, war ich schon im Waldorfkindergarten. Und in Waldorfkindergärten und -schulen ist Steiners Wort (fast) Gesetz, und er hat sich natürlich auch zu diesem Thema geäußert:
“Es gibt keine Möglichkeit, der Krankheit zu entkommen, wenn man die Gesundheit haben will. Jede Möglichkeit, sich gegen die äußeren Einflüsse stark zu machen, beruht auf der Möglichkeit, Krankheit zu haben, krank zu sein. So ist die Krankheit die Bedingung der Gesundheit. […] Wollen wir die Stärke, die Gesundheit, dann müssen wir ihre Vorbedingung, die Krankheit, mit in Kauf nehmen. Wollen wir stark sein, dann müssen wir uns gegen die Schwäche schützen, indem wir die Schwäche in uns aufnehmen und in Stärke verwandeln.”
– Rudolf Steiner
Und damit war bei den Anthroposophen ganz klar: Kinderkrankheiten sind wichtig für die Entwicklung von Kindern. Alle „Kinderkrankheiten“ müssen durchgemacht werden, und zwar zum richtigen Zeitpunkt. Und als es bei mir soweit war, „durfte“ ich die Infektionskrankheiten auch bekommen.
Meine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit getrennt und meine Mutter war fest in den Fängen der Esoterik. Also wurde ich nicht nur krank, ich wurde auch nicht mit wirksamen Medikamenten behandelt. Welche Krankheiten bekam ich?
Ich hatte Masern, angeblich zweimal, nachvollziehen kann ich das heute nicht mehr. Ich kann mich nur noch an das fürchterliche Jucken erinnern – und nicht einmal das durfte wirklich wirksam behandelt werden. Ich bekam also Globuli, Wadenwickel und Kleiebäder.
Die Kleiebäder halfen kaum gegen das Jucken, und sogar Wadenwickel zum Senken von Fieber wurden selten eingesetzt. Irgendwann wurde ich wieder gesund, und natürlich war das eine Bestätigung für meine ganze Umgebung, dass der Weg der richtige war.
Röteln hatte ich fast unbemerkt, wir sind damals überhaupt nur drauf gekommen, weil ich einen “komischen Ausschlag” am Bauch hatte und deshalb meine Mutter nicht im Krankenhaus besuchen durfte.
Scharlach ohne evidenzbasierte Medizin war furchtbar. Normalerweise wird Scharlach als bakterielle Infektion mit Antibiotika behandelt, aber anthroposophische Ärzte sehen das als “Schummeln” an – die Selbstheilungskräfte des Körpers sollen wirken.
Windpocken hatte ich mehrfach und empfand sie als fast noch schlimmer als Masern.
Am allerschlimmsten hat es mich aber mit Mumps erwischt. Sechs Wochen Bettruhe im dunklen Zimmer, mir ging es richtig dreckig. Und dabei wurde ich von unserem Kinderarzt anthroposophisch-medizinisch geleitet. Also wurde das Fieber nicht gesenkt, weil es angeblich so “wichtig für die Bekämpfung der Krankheit” war – und auch die Symptome wurden kaum bekämpft.
Das Ganze wird von Waldorfeltern gerne mit einer anstrengenden Bergwanderung verglichen (der Artikel ist mittlerweile nicht mehr online, über Archivseiten noch auffindbar), aber ich kann euch versichern, dass das GAR NICHTS mit einer Bergwanderung zu tun hat. Eine Bergwanderung ist anstrengend, aber am Gipfel wird man mit einer guten Aussicht belohnt, isst eine nette Jause und macht sich auf den Heimweg. Hoffentlich ohne größere gesundheitliche Schäden. Und meistens ist so eine Wanderung auch an einem Tag erledigt.
Bei einer Bergwanderung liegt man nicht mit glühendem, schmerzenden Kopf im Bett und wünscht sich nur noch zu sterben. Mein Hals war so angeschwollen, dass Schlucken kaum mehr möglich war, ich konnte meinen Kopf nur noch wenig bewegen. Mein Zimmer war verdunkelt, weil jedes Licht meine Kopfschmerzen verschlimmerte. Rückblickend betrachtet klingt das für mich so, als hätte ich eine Hirnhautentzündung gehabt. Das ist bei einer Mumpsinfektion nicht unwahrscheinlich, besonders, wenn das kranke Kind keine entzündungshemmenden Medikamente bekommt. Um mich abzulenken, schrieben mir meine Mitschüler:innen Briefe, die ich aber im dunklen Zimmer nicht lesen konnte.
Nach sechs Wochen durfte ich wieder in die Schule. So richtig gesund war ich dann aber noch lange nicht.
Es ist auch nicht so, als hätte ich ein besonders gutes Immunsystem davon bekommen, was ja Impfgegner immer wieder als Vorteil nennen. Jahrelang habe ich mir jeden Infekt eingefangen, der auch nur irgendwie in meiner Umgebung unterwegs war.
Das hätte alles nicht sein müssen.
Gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) gab es auch in den 80ern schon eine wirksame Impfung, bei Scharlach helfen Antibiotika. Fiebersenkende Mittel und Schmerzmittel können immer eingesetzt werden, gegen den Juckreiz gibt es ebenfalls evidenzbasierte Mittel.
Waldorfeltern kümmern sich oft hingebungsvoll um ihre kranken Kinder, und meine Mutter war da keine Ausnahme. Ich habe mich selten in meinem Leben so umsorgt gefühlt. Meine Mutter war wie viele Waldorfeltern überzeugt, dass die sogenannten “Kinderkrankheiten” karmisch notwendig sind. Dass Kinder, die diese Krankheiten nicht durchmachen, einen echten Nachteil haben. Sie leiden mit ihren Kindern, und jede wirkungslose Salbe, jedes nutzlose Zuckerkügelchen sind ein echter Liebesbeweis. Der Berg muss erwandert werden.
Abkürzungen sind schlecht fürs Karma.
Und ganz klar: das ist natürlich keine Entschuldigung, seine Kinder nicht vor Krankheiten zu schützen oder sie homöopathisch gegen Masern zu behandeln! Ich verstehe bis heute nicht, wie es meine Mutter geschafft hat, meinem Bruder und mir beim Leiden zuzuschauen und uns keine wirksamen Medikamente zu geben.
Leider war es mit den Infektionskrankheiten noch lange nicht getan.
Meine Mutter war davon überzeugt, dass meine Allergien und meine Asthmaanfälle auf das Trennungstrauma nach der Scheidung zurückgingen, und deshalb versuchte sie alles, um mich “ganzheitlich” zu heilen. Ich bekam also Zuckerkugeln. Und Bachblüten. Das wirkte natürlich alles nicht, also gingen wir zu einem Heilpraktiker. Als Alleinerziehende hatte meine Mutter wirklich kein Geld über, aber sie sparte, wo sie konnte.
Dort beim Heilpraktiker wurde die “Aura” meiner Füße fotografiert, um den Zustand meiner Organe zu begutachten, Akupunkturnadeln in meine Ohren gesetzt, und ein paar Mal wurde ich auch geschröpft. Also tatsächlich, nicht nur im übertragenen Sinne. Geholfen hat es nicht. Meine Allergien wurden nur schlimmer und zum Glück bekam ich gegen meine Asthmaanfälle vom anthroposophischen Arzt ein tatsächlich wirksames Asthmaspray verschrieben.
Leider war meine Mutter zu diesem Zeitpunkt viel zu tief in die Esoterik verstrickt, um damit aufzuhören, und so warf sie noch jahrelang verschiedenen Scharlatanen Geld in den Rachen. Welche Auswirkungen hatte das auf mich?
Ich habe der Homöopathie (und jeder anderen Art der Esoterik) den Rücken gekehrt. Meine Kinder kennen die Zuckerkugeln gar nicht.
Geblieben ist eine Scheu vor Ärzten. Ich nehme Medikamente oder gehe zum Arzt nur dann, wenn es „wirklich sein muss”. Meine Kinder sind geimpft und ich habe meine Impfungen nachholen lassen. Ich hatte Glück, denn ich habe, soweit ich weiß, keine bleibenden körperlichen Schäden davongetragen.
Und was hat meine Geschichte mit dem Eingangs erwähnten Diphtherie-Fall zu tun?
Wir #exwaldi waren diese Kinder. Wir sind durch dieses unnötige Leiden hindurchgegangen. Manche von uns waren Schlagzeilen, manche von uns waren einen Krankenhausbesuch davon entfernt, zu einer Schlagzeile zu werden. Ich denke, ich hätte mit Mumps eigentlich im Krankenhaus landen sollen, und hätte eine Schlagzeile werden können – genauso eine wie die, über die sich gerade in den sozialen Medien lustig gemacht wird.
Deshalb an dieser Stelle ein Hinweis an alle, die sich nicht ansatzweise vorstellen könnt, wie viel Leid hinter so einer Schlagzeile steckt: Bitte seid fair und hört lieber zuerst Betroffenen zu! Unsere Eltern als dumm hinzustellen ist auf zweierlei Art übel. Erstens ist es ableistisch, denn Intelligenz hat mit der Entscheidung für oder gegen die Waldorfschule nicht viel zu tun.
Zweitens nimmt es viel Komplexität aus dem Thema heraus. Eltern machen sich die Entscheidung nicht leicht. “Nicht impfen” ist selten eine eindimensionale Angst vor Impfschäden und hat gerade an Waldorfschulen viel mit “Krankheiten als notwendiger Entwicklungsschritt” zu tun.
Und dann kommt der Sozialdarwinismus zum Vorschein. “Die Schwurbler sterben aus” und “Evolution regelt” sind schon maximal empathiebefreit. Es ist leider fast schon normal geworden, in den Sozialen Medien so miteinander zu reden. Ich kann mich nur wiederholen. Hört zu. Bitte.
Manche von uns haben Geschwister oder Freund:innen, die noch in der Waldorfwelt festhängen. Wir werden mit dieser Argumentation einfach alle unter den Bus geworfen..
Viele von uns nutzen ihre Zeit und Energie für Aufklärung über Anthroposophie und anderen esoterischen Humbug. Wir machen uns damit euch gegenüber sehr verletzlich. Wir tun das, weil wir es für wirklich wichtig halten.
Was ihr machen könnt, ist, uns mit Empathie zu begegnen. Lest die Berichte von Betroffenen. Hört uns zu. Und werdet zu unseren Verbündeten.
Und wenn ihr hört, dass “Globuli keinen Schaden anrichten”? Seid so lieb und erzählt meine Geschichte. Ich bin kein Einzelfall, meine Geschichte steht exemplarisch für so viele. Und wir können der nächsten Generation helfen. Wir müssen.
Ihr findet Sarah als veelana.bsky.social bei Bluesky
Zum Weiterlesen:
#ExWaldi auf Twitter, Instagram und bluesky: unter diesem # haben sich zunächst ehemalige Waldorfschüler:innen zusammengefunden, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Inzwischen schreiben auch andere Menschen unter diesem #, die in ihrem Leben direkt von Anthroposophie betroffen waren
Natalie Grams “Was wirklich wirkt: Kompass durch die Welt der sanften Medizin” 2020, Aufbau Verlag
Zum Weiterhören:
Waldorf Salat Podcast Folge 2
https://waldorfsalat.letscast.fm/episode/2-mit-natalie-grams-anthroposophische-medizin
Quelle Steiner-Zitat:
Rudolf Steiner, Öffentliche Vorträge “Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben”
GA 55, s.115